Am Freitag beginnt die Skiflug-Weltmeisterschaft auf der grössten und modernsten Anlage der Welt in Vikersund. Dem Schweizer Simon Ammann wird eine Medaille zugetraut. Aber die Skiflieger selbst treibt etwas anderes um als der WM-Titel: Es geht darum, Weltrekord zu springen.
Johan Remen Evensen hat sich noch einmal gut aus der Affäre gezogen: Bevor er als Weltrekordhalter überflügelt wird, machte er lieber gleich einen Abflug und beendete seine Karriere. Der Norweger hat am Montag sein Amt in Würden verlassen, niemand wird Evensen je streitig machen, dass er es war, der als erster Mensch der Welt auf Skiern über 240 Meter weit geflogen war.
246,5 Meter – gesegelt und gelandet vor einem Jahr in Vikersund, auf der grössten und modernsten Flugschanze der Welt. Neben dem Vikersundbakken wirkt jede andere Schanze wie ein Spielzeug: 600 Meter ist die gesamte Anlage lang, vom Anlauf bis zur Landung legen die Skieflieger über 200 Höhenmeter zurück, dazu wartet der steilste Anlauf der Welt (über 36 Grad Neigung), ein drei Meter hoher Schanzentisch. Es ist der perfekte Ort, um ab Freitag den neuen Weltmeister im Skifliegen zu küren.
Doch darum geht es eigentlich gar nicht: Denn was ist schon eine einfache goldene Medaille gegen den offiziellen Weltrekord? Gegen diesen Titel, der begehrter zu sein scheint als alle anderen Trophäen, die es im Schanzen-Reich zu gewinnen gibt? «Der Weltrekord ist mit Abstand das Grösste, eine Stufe höher als ein WM-Titel», sagt etwa Armin Kogler, der vor drei Jahrzehnten selbst zwei Jahre die Nummer eins der Welt war (180 Meter). «Für mich war das immer der grösste Traum, Weltrekord zu fliegen», bestätigt Johan Remen Evensen.
Wenig Bestmarken im Sport sind so begehrt
Der Skiflug-Weltrekord also. Es gibt im Sport nur wenige Bestmarken, die so begehrt und glorifiziert werden wie der Weitenrekord der Adler-Menschen. So wie vor jedem olympischen 100-Meter-Final Sportfans die Sehnsucht nach einer neuen Sternstunde im Hundertstelbereich packt, so pünktlich tauchen vor einer Skiflug-WM auf der grössten Schanze der Welt die Fragen nach dem Rekord auf, nach den Grenzen des menschlich Springbaren.
Wer kann Johan Remen Evensen als König der Lüfte ablösen? Ist die Zeit, ist der Bakken reif für einen neuen Höhenflug? Und fällt gar die magische 250er-Marke?
Walter Hofer kann die allgemeine Neugier und Sehnsucht gut nachvollziehen. Er war selbst einmal ein aktiver Weitenjäger, ehe er begann, sich als Renndirektor des Internationalen Skiverbandes um den geregelten und sicheren Ablauf der Bewerbe zu kümmern.
Er erinnert sich nur zu gut an die WM-Generalprobe im Vorjahr, die ein wenig aus dem Ruder gelaufen war. Die Schanze war frisch umgebaut, die Erfahrungswerte fehlten, und plötzlich nützte einer die Wind-Gunst der Sekunde und flog runter in die Grube. «Uns war es damals nicht möglich, durch den Anlauf zu steuern, ob einer 200 oder 240 Meter fliegt», erinnert sich Hofer, «so kann man natürlich nie reibungslos einen Bewerb durchbringen.»
Der Bakken musste angepasst werden – die Chance auf einen Rekord sinkt
Deshalb mussten die weltrekordsüchtigen Norweger den Bakken für die Weltmeisterschaft noch einmal adaptieren. Der Schanzentisch wurde um einen Meter kürzer und flacher. Dadurch wird die Flugkurve höher, die Chance auf einen neuen Weltrekord geringer. Hofer: «Uns geht es in erster Linie einmal um Chancengleichheit und Sicherheit. Und wenn ein neuer Rekord heraus kommt, ist es auch gut.»
Bei den Schanzen sind mittlerweile die Grenzen bereits erreicht. Das Regulativ der FIS erlaubt in Vikersund und im slowenischen Planica, wo derzeit ein letztes Mal umgebaut wird, kein weiteres Wettrüsten mehr. Die 250-Meter-Marke also als Barriere? Bis hierher und nicht weiter?
Red Bull will einen Flug über 300 Meter
«300 Meter sind für einen Skiflieger möglich», behauptet Gregor Schlierenzauer. Zwar nicht in einem offiziellen Wettbewerb, aber wer wie der Tiroler Jungstar einen finanzstarken Geldgeber an der Seite hat, der darf von der grenzenlosen Weitenjagd träumen. Schlierenzauers Sponsor Red Bull verfolgt schon seit Jahren die Vision einer Naturschanze, die Weiten bis 300 Meter erlauben soll. Im Vorjahr wurde das Pilot-Projekt noch einmal verschoben, derzeit wird nach einem geeigneten Standort für die Einweg-Schanze gesucht, die nach dem Weltrekordflug sofort wieder dem Schneeboden gleichgemacht werden soll.
So weit, so gut? Für FIS-Direktor Walter Hofer würden Wettkämpfe auf solchen Schanzen keinen Sinn machen. Eine solche Anlage würde die Grenzen der Vernunft sprengen, denn schon jetzt in Vikersund sind die Athleten und Veranstalter mit klimatischen Problemen konfrontiert. Der Höhenunterschied zwischen Sprungturm und Auslauf ist bereits so gross, dass oben die Sonne scheinen kann, während unter die Zuseher im Nebel sitzen.
Kleine schwarze Punkte, die durch die Luft segeln
Zudem bieten diese riesigen Anlagen eine enorme Angriffsfläche für den Feind der Adler, den Wind. «Mit jedem km/h mehr Wind potenzieren sich die Luftkräfte», erklärt Walter Hofer, der noch ein weiteres Problem ortet: Die Attraktivität für den Zuseher. «Diese Anlagen hätten dann solche Dimensionen, dass kein Zuschauer vor Ort mehr was mitbekommen würde.» Ausser vielleicht einen kleinen schwarzen Punkt, der durch die Luft segelt. Nachsatz: «Aber physisch ist das sicher machbar.»
Laut einer Untersuchung von Wolfram Müller ginge es sogar noch weiter. Der Universitätsprofessor von Human Performance Research in Graz verfasste bereits 1997 eine Arbeit namens Skisprung-Utopie und spielte Sprünge auf einer fiktiven 400-Meter-Schanze durch. Seine Analyse: «Beim Skifliegen nimmt der Springer ab 200 Metern einen fast konstanten Gleitwinkel ein. Vom Standpunkt der Physik und der Aerodynamik ist ein 400-Meter-Flug nicht auszuschliessen.»
Das Programm der Skiflug-WM finden sie auf der offiziellen Homepage oder auf der Rückseite dieses Artikels.