Der verratene Kandidat

Die Schweiz will 2022 mal wieder Winterspiele ins Land holen. Adolf Ogi erinnert sich mit Bitterkeit an das Scheitern von Sion im Jahr 1999.

Sieht sehr viel Arbeit auf das Bündnerland zukommen – ein skeptischer alt Bundesrat Adolf Ogi im Gasthof zum Brunnen im bernischen Fraubrunnen. (Bild: Mara Truog)

Die Schweiz will 2022 mal wieder Winterspiele ins Land holen. Adolf Ogi erinnert sich mit Bitterkeit an das Scheitern von Sion im Jahr 1999.

Ich sage es Ihnen ganz klar, Herr Beck», Adolf Ogi spannt die rechte Hand zu einer scharfen Kante. Ogi hält inne. Ogi fixiert sein Gegenüber. Ogi holt Luft: «Die Kandidatur im Wallis – da muss man schon sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr viel arbeiten im Bündnerland, um das hinzubekommen. Die haben ganz grosse, grosse, grosse, grosse, grosse, grosse Überzeugungsarbeit zu leisten.» Acht gezählte sehr und sechs grosse. Es sollen wieder Olympische Spiele ins Land – und sie haben Adolf Ogi nicht gefragt!

Ogi empfängt im Gasthof zum Brunnen im bernischen Fraubrunnen, wo er nach seinem Rücktritt aus dem Bundesrat, in dem er von 1985 bis 2000 15 Jahre sass, lebt. Er will über die geplatzte Olympiakandidatur von Sion 2006 sprechen, die bis heute eng mit ihm verknüpft wird.

Er braucht keine Unterlagen, um sich an die Umstände des Scheiterns zu erinnern, die einzigen Unterlagen, die er mitbringt, sind solche über eine Kinderstiftung, für die er jedes Jahr 100 000 Franken auftreibt, sowie einen Flyer zu einem neuen Buch über ihn. «So wa(h)r es» – die Idee zum doppeldeutigen Titel stamme von ihm, sagt er. Das Buch geschrieben hat der Bundeshausjournalist Georges Wüthrich. Unveröffentlichte Anekdoten, Bilder, Dokumente. Ogi wird im Juli 70. Die Zeit ist gekommen in seinem Leben, um ein paar Dinge klarzustellen.

Ogi will erzählen, wer ihn und die Kandidatur von Sion 2006 verraten hat. Ort des Dramas war der Kongresssaal des Shilla-Hotels im südkoreanischen Seoul, es war der 19. Juni 1999, es war am Wahlkongress des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), als sie das, was seine Vision für die Schweiz war, mit ein paar feierlichen Worten ­zunichte machten. «And the Winner is Torino!» Der greise Juan Antonio Samaranch, IOC-Präsident und Gottvater, sprach das Urteil aus. 53 zu 36 Stimmen gegen den Favoriten Sion, der damit zum dritten Mal gescheitert war.

Samaranchs Dolchstoss

Die Bilder sind noch da: Ogi sackt zusammen, vergräbt sein Gesicht in seinen grossen, tatzigen Händen. Die mitgereiste Skilegende Maria Walliser bricht in Tränen aus. Ogis Berater und Chef-Lobbyist beim IOC, Jean Michel Gunz, klettert wie von Sinnen auf den Balkon des Kongresssaals, damit er sie alle genau im Blick hat, die IOC-Mitglieder, und erkennen kann, wer ihm ins Gesicht log, als er Sion die Unterstützung zusagte.

«Samaranch hat mir die Spiele versprochen», sagt Ogi heute. «Das wissen nur er und ich, aber er ist mittlerweile im Grab.» Sie hätten ein enges Verhältnis gehabt, seit Ogi in den Nationalrat und später in den Bundesrat gewählt worden war. «Jedes Mal, wenn das IOC in der Schweiz ein Problem hatte, hat er mich angerufen, bei Steuerproblemen, bei Visageschichten, bei baulichen Dingen. Ich habe immer alle Probleme für das IOC in der Schweiz zu lösen versucht.»

Es war am Vorabend der Wahl, als Ogi bemerkte, dass Samaranch ihn mit seinen Versprechungen nur eingelullt haben könnte, als er spürte, dass sich der Wind drehte, dass sich die Fasels und Oswalds, die Schweizer im IOC, die einen sicheren Sieg voraussagten, geirrt haben könnten. Wie die Heimatpresse, wo NZZ und «Blick» einen soliden Vorsprung auf Turin errechnet hatten. Man besass ja das beste Konzept, die beste Organisation, das beste Lobbying. Man hatte Adolf Ogi.

IOC-Mitglieder warnten Ogi

An einem Empfang beim Schweizer Botschafter in Seoul am Vortag der Abstimmung kamen IOC-Mitglieder auf ihn zu. Sie warnten ihn: Da ist irgend etwas im Gang. Ogi war ausser sich: «Ich bin sofort zum Samaranch. Direkt in sein Büro, hab gesagt (die Faust fliegt auf den Esstisch im Gasthof zum Brunnen), Juan Antonio, du musst jetzt ein Machtwort sprechen.» Er hebt die Stimme: «Du hast es mir versprochen! Und es läuft gegen uns!»

Samaranch tat nichts dergleichen, oder er konnte nichts tun. Ogi vermutet heute, die Fussballvertreter im IOC ­seien im letzten Moment zu Turin übergelaufen. Mitverantwortlich dafür macht er Fifa-Präsident Josef Blatter: «Der Herr Blatter hat uns schon sehr enttäuscht. Ich hatte ihm gesagt: Du musst nach Seoul kommen! Drei Tage vor dem Kongress kam er tatsächlich, doch am Vortag der Wahl flog er wieder ab. Er müsse an ein Spiel der Frauenweltmeisterschaft, er wolle dort Hillary Clinton treffen.» Ogi wird lauter: «Ich habe ihn bekniet zu bleiben! Aber er ist nicht geblieben.»

Sie sagen in der Schweiz heute, Ogi habe es immer noch nicht überwunden, das Votum von Seoul, als er und die Kandidatur, er und die Spiele, eins waren. Und das IOC, dieses hoffnungslos eigensinnige, dieses verlogene und wahrscheinlich von der Wurzel auf korrupte Gremium, mit Mitbestimmern aus Barbados und anderswo, wo das einzige Eis dasjenige in den Gläsern fruchtiger Cocktails ist, als dieses IOC seinen Traum zerschmetterte.

Hodlers Vermächtnis

Korrupt, das hatte der Berner Anwalt Marc Hodler behauptet, einer aus Ogis Kandidaturkomitee. Kein halbes Jahr vor der Wahl trat er vor die Weltpresse, er war 80 und älter, ein Mann in seinen letzten klaren Jahren, an Krücken gehend, sein Vermächtnis vorbringend. Es waren Vorwürfe, aufgestaut während einer langen Zeit in der olympischen Familie. Hodler, Schweizer IOC-Mitglied, behauptete, bei der Wahl von Salt Lake City zum Austragungsort 2002 seien Stimmen im grossen Stil gekauft worden. Später bestätigte sich das meiste. Doch das zählte wenig. Es war ein veritabler Skandal und nichts, was das IOC einfach so verdrängen konnte, als es vor der Wahl stand: Turin oder Sion?

Sion, Sion, Sion, Sion hatte es durch die Nacht gehallt auf der Place de la Planta, dem Sittener Marktplatz. Tausende Walliser hatten sich zusammengefunden, sie tanzten und jauchzten sich die Nervosität weg vor dem Entscheid des IOC im fernen Seoul. In den Schulen der Restschweiz wurden die letzten Minuten live, Samaranchs «Torino!», in den frühmorgendlichen Unterricht übertragen. 85 Prozent Zustimmung hatte die Kandidatur in der Schweiz. 85 Prozent. Das gibts sonst nur noch für den Weltfrieden.

Ogi hatte es geschafft, ein grundsätzlich gegenüber Grossveranstaltungen skeptisch eingestelltes Volk hinter sich zu bringen. Er warb als Sport­minister und Chef der Kandidatur in Kolumnen in der zunächst Olympia­kritischen Westschweizer Illustrierten «L’ Illustré» und im «Blick». Er kannte keine Zurückhaltung, keine Interessenskonflikte mit der Würde seines Amtes als Bundesrat. Die Politiker und die Medien sagten, wenn Sion 2006 fehlschlägt, ist Ogi erledigt.

Ogis Scheitern

Seine Umfragewerte litten nicht unter der Schmach, das Volk nahm ihm die Niederlage nicht übel, es nahm ihn in Schutz. Doch Ogi schien verbraucht. Zur Wiederwahl im Bundesrat trat er nicht mehr an. Dafür kandidierte er für die Aufnahme in jenes Gremium, das ihn so brutal hatte auflaufen lassen: Er wollte 2001 ins IOC. Und wieder wird es tragisch.

Ogi erzählt: «Die Schweizer haben alles dafür gemacht, dass ich nicht gewählt werde. Der Sepp Blatter hat gesagt, meine Kandidatur sei anti-konstitutionell. Gian-Franco Kasper meinte: Der Ogi ist dann nicht damit zufrieden, nur Mitglied zu sein, der will sofort in die Exekutive. Fasel sagte: Es hat schon viele Schweizer im IOC, da muss man aufpassen. Mir hat man verboten, zum Wahlkongress nach Moskau zu kommen! IOC-Generaldirektor François Carrard hat mich angerufen und gesagt, es wäre besser, wenn du nicht kommst. Alle anderen haben Essen und Einladungen gemacht.» Am Schluss fehlten Ogi ein paar Stimmen. «Es war für alle, die das wollten, die Gelegenheit, mir eins auszuwischen.»

Als alles draussen ist, was gesagt werden musste zu Sion und zu ihm, fängt man an zu verstehen, weshalb sie ihn nicht dabei haben wollen bei Graubünden 2022. Ogi ist noch immer verbittert. «In der Politik gibt es für alles ein Zeitfenster», sagt Ogi, als er zum Schluss des Gesprächs nochmals auf die Bündner Kandidatur zu sprechen kommt. Zu den Chancen will er sich nicht äussern. Er zählt nur seine Schweizer Visionen auf: «Es gibt ein Zeitfenster für die Neat, eines für den EWR-Beitritt, eines für Olympische Spiele.» Für alles und auch für ihn.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 20.04.12

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