Am Samstag trifft die Schweiz an der EM auf Albanien. Der kleinste Teilnehmer in Frankreich hebt sich ab von den übrigen Nationen: Die Mannschaft wohnt in einem gewöhnlichen Hotel, versucht, ihren Patriotismus im Zaun zu halten – und die Nation kann den Fussball kaum von den Kriegserinnerungen lösen.
Auf den ersten Blick wirkt das albanische Europameisterschafts-Projekt wie eine Reise in ein längst vergangenes Fussballidyll. Vor 10, 15 Jahren gab es noch viele Nationalmannschaften, die auf den Rückzug in eine von der Alltagsrealität abgeschirmte Fussballwelt verzichteten, den Leuten zugänglich blieben, sich durch die Welt der normalen Durchschnittsmenschen bewegten. Vor der Europameisterschaft in Frankreich erscheint der erste Gegner der Schweizer jedoch wie ein seltsamer Exot, wenn von der Turniervorbereitung in einem unscheinbaren Hotel vor den Toren von Bergamo berichtet wird.
81 Franken sollen die Zimmer pro Nacht kosten. Augenzeugen berichten, dass sich die Spieler, der Trainer, Freunde und Familienmitglieder frei durch die Lobby bewegten, jeder sei ansprechbar. Das albanische Trainingslager ist irgendwie aus der Zeit gefallen – inzwischen werden Profifussballer ja bekanntlich hofiert, gehätschelt und bewacht wie amerikanische Präsidenten oder orientalische Prinzen.
Jede Menge Energie hinter der hübschen Fassade
Die Albaner sind im Gegensatz zu den Mannschaften mit Starallüren offen und bescheiden. Sie sind der kleinste EM-Teilnehmer, kein Team ist in der Weltrangliste schlechter platziert. Aber in die Rolle des fröhlichen Aussenseiters passen sie trotzdem nicht. Hinter der hübschen Fassade tobt nämlich eine gehörige Portion Energie, die nicht nur positiv geladen ist, erzählt Mergim Mavraj, der in Deutschland aufwuchs und für den 1. FC Köln spielt.
Die Residenz in Frankreich sieht dann nicht ganz so schlimm aus – hier wohnen die Albaner während der Europameisterschaft. (Bild: Keystone/EDDY LEMAISTRE)
Die kleine Nation von der südlichen Adriaküste ist noch tief bewegt von den Erinnerungen an den Balkankrieg, die bei diesem ersten Auftritt auf der ganz grossen Bühne des Weltsports an die Oberfläche drängen. «Albanien ist ein sehr patriotisches Land. Hier überwiegt der Stolz auf das eigene Land, der grösser ist als alles andere», sagt Mavraj. Und wenn Albaner ihren Patriotismus ausleben, geht es automatisch um viel mehr als nur um Sport.
Gräueltaten in den Köpfen der Menschen
Gerade einmal 18 Jahre sei es her, dass im vorwiegend von Albanern bewohnten Kosovo «unsere Frauen verbrannt und die Kinder vergewaltigt wurden», erzählt der 29-jährige Mavraj. «Deswegen ist es so, dass über allem immer das Land steht.» Einerseits macht diese EM-Teilnahme eine ganze Nation glücklich, andererseits bietet sie den Nährboden für allerlei Gefühle, Gedanken und Fantasien, die weder zu einem fröhlichen Sportfest, noch zu einer Entspannung der konfliktreichen Konstellation auf dem Balkan beitragen.
Shkelzen Gashi, ehemaliger Spieler des FC Basel, trifft mit der Nationalmannschaft in Frankreich ein. (Bild: UEFA HANDOUT)
Besonders die Auseinandersetzung mit den Serben – die die Albaner im Konflikt um die Vorherrschaft im Kosovo lange unterdrückten, im Kosovokrieg zwischen 1998 und 1999 verfolgten und 100’000 Menschen in die Flucht schlugen – ist noch längst nicht befriedet. In der Qualifikation wurde das Duell zwischen den Serben und den Albanern abgebrochen, nachdem aus einer Loge eine Drohne gestartet war und eine mit verschiedenen nationalistischen Symbolen bedruckte Flagge «Grossalbaniens» über das Spielfeld zog.
Grossalbanien ist ein fiktives Reich, dessen Grenzen neben dem aktuellen albanischen Staatsgebiet auch Teile von Griechenland, Mazedonien, Serbien und Montenegro umfassen. Das serbische Publikum fühlte sich provoziert, die Lage eskalierte, die Partie wurde als 3:0-Sieg für Albanien gewertet.
Der Drohnen-Pilot ist ein Held
«Der Typ, der die Fahne geflogen hat, wurde in Albanien gefeiert», erzählt Mavraj und hat durchaus Verständnis für die emotionale Heftigkeit, die sich entwickeln kann, wenn sich Fussball und politisch gespeiste Emotionen vermischen. «Uns fehlt noch ein bisschen das Taktgefühl in diesen Sachen. Es gibt viele Leute, die nicht so gut differenzieren können, dass es hier gerade um Sport geht», sagt der Innenverteidiger, der die Geschichte der Flüchtlingsfamilien, die sich mittlerweile in der Schweiz, Deutschland oder anderen westeuropäischen Ländern neue Existenzen aufgebaut haben, als «Drama» bezeichnet.
Die Basler bei den Albanern: links Taulant Xhaka im Zweikamf, rechts Naser Aliji. (Bild: Keystone)
Denn «einerseits wurden unsere Eltern aus ihren Häusern verjagt, auf der anderen Seite konnten ihre Kinder dadurch in Ländern aufwachsen, wo sie neue Perspektiven bekommen haben; eine bessere Bildung, neue Chancen und natürlich auch eine fussballerische Ausbildung». So wurde die albanische Nationalmannschaft zu einem Ensemble der Flüchtlingskinder, das zweifellos das Label Multikulti verdient. Es gibt Spieler, die wuchsen in Aserbaidschan auf, andere in Deutschland, in Mazedonien, der Schweiz, in Iran oder Italien.
Die Spieler übersetzen für den Trainer
Und weil Trainer Gianni de Biasi weder das Albanische noch das Englische ausreichend gut beherrscht, ist die Amtssprache im Nationalteam italienisch. «Genau wie die Spielweise», sagt Mavraj.
Mit Torhüter Etrit Berisha, Mittelfeldspieler Lorik Cana (beide Lazio Rom) und Aussenverteidiger Elsaid Hysai (SSC Neapel) gehören dem Team diverse Spieler aus der Serie A an. Sie übersetzen für den Trainer und sind bestens vertraut mit der strategisch durchdachten Fussballkultur Italiens. «Die Grundordnung ist ganz klar», erläutert Mavraj: «Es geht darum, die Null so lange wie möglich zu halten, das ist der Schlüssel zum Erfolg, das ist der Matchplan gegen alle Mannschaften.»
Die Schweiz, Frankreich und Rumänien werden es in den nächsten Tagen also mit taktischem Geschick zu tun bekommen – und jeder Menge Emotionen.