Die Belgier: Nie auch nur geträumt von der WM

Überwältigt von einer spektakulären WM-Qualifikation gliedert sich Belgien beim Volksfest-Match gegen Wales mit umgestalteten Nationalflaggen und donnernden Sambagesängen in den Staatenbund Brasiliens ein.

epa03911805 Belgium's player Axel Witsel and Nacer Chadli (R) celebrate after the FIFA World Cup 2014 qualifying soccer match between Belgium and Wales at the King Baudouin stadium in Brussels, Belgium, 15 October 2013. EPA/OLIVIER HOSLET (Bild: Keystone/OLIVIER HOSLET)

Überwältigt von einer spektakulären WM-Qualifikation gliedert sich Belgien beim Volksfest-Match gegen Wales mit umgestalteten Nationalflaggen und donnernden Sambagesängen in den Staatenbund Brasiliens ein.

Der Freitag in Zagreb, das entscheidende 2:1 gegen Kroatien zur WM-Qualifikation, war der Showdown. Brüssel am Dienstagabend, das bedeutungslose 1:1 gegen Wales, war Schaulaufen und Volksfest. Radio Brüssel hatte sich für diesen Abend in Radio Brasil umgetauft. Der belgische Sänger und Songwriter Steve Buscemi hatte Hits aller Art mit Sambarhythmen umarrangiert, ein Mix aus Hiphop, Funk, Bossa Nova. In seinem WM-Rap reimte sich Belgiens Mittelfeldspieler Dembele auf Pele. Im Stadion sang die Runde donnernd Sambahits, immer wieder, die Fans hatten ihre Gesichter brasilianisch blau-gelb-grün geschminkt. Brüssel feierte Karneval am Zuckerhut. Nur König Philippe schritt steif Hände schüttelnd die Mannschaften ab, Ministerpräsident Elio di Rupo machte zumindest La Ola mit.

Belgiens Politiker wissen, welch einende Kraft der Fussball gerade in ihrem dreisprachigen Patchwork-Staat hat. Seit Jahrzehnten tragen die Fans «Belgium»-Hemden, um in der Fremdsprache Englisch alle drohenden Streitereien zu umschiffen. Auch auf dem roten Shirt, das an die Zuschauer verteilt wurde, steht «Belgian Red Devils in Brazil». In der belgischen Fussballsprache.

Auf dem Platz kombinierte sich Belgiens Auswahl zu einem guten Dutzend bester Chancen, aber nur Kevin de Bruyne traf (65.), was der Stadionsprecher mit einem 35-sekündigen «Goooooool»-Ruf südamerikanisch vermeldete. Wales konterte einmal und Arsenal-Stürmer Aaron Ramsey stocherte in Minute 88 ein. Der Stimmung tat das keinen Abbruch.

Auch Trainer Marc Wilmots klatschte beim umjubelten Schlusspfiff, dann kam eine heftige Champagner-Dusche über ihn. Profanes Bier passt nicht zum Geniesserland Belgien. Und Champagner ist das Teamgesöff. Wenn Belgiens Spieler zu spät kommen, hat Wilmots verfügt, gibt es keine Geldstrafe ins Mannschaftskässlein. Es muss zum Prickelgetränk eingeladen werden.

Jetzt gelten sie bereits aus Aussenseiter für den WM-Titel

Wilmots, 44, seit 1997 und dem Uefa-Cup-Sieg mit Schalke 04 zum «Kampfschwein» geadelt, ist Belgiens unbestrittener Erfolgsbringer. Vor einem Jahr hat er das Team übernommen, umgehend wurden Triumphe Gewohnheit: 26 von 30 möglichen Punkten in der Qualifikation wurden geholt, die Endrunde ungeschlagen mit nur vier Gegentoren erreicht. Eine spektakuläre Bilanz. In der Fifa-Weltrangliste schoss Belgien von Position 40 auf 6 – vor Brasilien, Holland, Portugal. Hochrechnungen für die am Donnerstag erneuerte Liste sehen das Land auf Platz 4. Manche geben den Frittenerfindern sogar Aussenseiterchancen auf den Titel.

Zwölf Jahre hat Belgien an keinem grossen Championat teilgenommen. «Das war ganz grosser Mist», seufzte der viermalige WM-Teilnehmer Wilmots am Dienstag. Dass es jetzt so läuft, nein, das habe er nie «auch nur geträumt». Wilmots, der bisweilen in jedem zweiten Satz von flämisch auf französisch wechselt, spricht von Geschlossenheit, Passion, Leidenschaft. «Wir spüren keinen Druck, sondern nur grosse Lust.» Als Vincent Kompany sich gegen Serbien die Nase brach, liess ihn Kampfschweinphilosoph Wilmots wissen: «Du spielst ja nicht mit der Nase Fussball. Atme durch den Mund. Und mach weiter.» Kompany wurde zum Matchwinner.

Das Team: Sehr robust, immer offensiv

Das kleine Belgien hat tatsächlich ein vielversprechendes Team, sehr robust, immer offensiv. Es ist eine mit Talenten gesegnete Generation, multikulturell gemixt. Nur drei Ersatzspieler kicken in der Heimat. Ein Dutzend wirkt bei englischen Topclubs, aus der Bundesliga kennt man neben Wilmots, Kompany und de Bruyne vier weitere: Abwehrchef Daniel van Buyten, Timmy Simons, Sebastien Pocognoli, Koen Casteels.

Hinten sind sie gut  sortiert und wie blind abgestimmt, das Mittelfeld rochiert permanent. Den Sechser gibt das wuschelköpfige Raubein Axel Witsel (St. Petersburg), ein Mann, der auch verlorene Zweikämpfe noch gewinnt und zudem im Wechsel mit Moussa Dembele technisch versiert antreiben kann. Tempodribbler Eden Hazard (Chelsea) ist eine Augenweide. Mal spielen sie klassisch über die Flügel, mal mit Finesse Stichpässe in die Spitze. Dann ist Sturmcenter Romelu Lukaku (FC Everton) beteiligt, immer brandgefährlich, kopfballstark, pfeifschnell und gleichzeitig ein beidfüssig geschmeidiger Wandspieler. Der tänzelnde Riese Lukaku (20) ist eine Waffe. Er spielte schon mit 16 beim RSC Anderlecht in Belgiens erster Liga.

Ordnung und Phantasie

Die schönste Parodie auf den Rängen war eine grosse Landesflagge Brasiliens in den belgischen Farben rot-gelb-schwarz. «Ordem e progresso» steht da im Original – Ordnung und Fortschritt. Ordnung und Phantasie sind die Merkmale dieser Mannschaft. Ein Transparent forderte «Maracana – sei bereit». Gemeint ist der Finaltag, 13. Juli. Wenn Belgien den Titel holen sollte, kein Zweifel, wird Portugisisch Amtssprache, die Nationalhymne («O Belgien, o teure Mutter») bekommt fetzige Sambarhythmen unterlegt und König Philippeao wird vermutlich dazu rappen.

Die Endstände in der Europa-Qualifikation

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