Eine Erörterung zum Bundesliga-Rückrundenstart: Ist der absichtliche Ballverlust in einem Fussballspiel ein innovatives taktisches Mittel? Und wenden die piranhahaften Hornissen des allmächtigen FC Bayern München (heute in Mönchengladbach, 20.30 Uhr, live in der ARD) das womöglich schon an?
Die steile These
Auch bei den Überfliegern des Weltfussballs aus München klappt nicht immer alles. Toni Kroos vertändelt nach einer gewohnt schnellen Ballstafette gelegentlich unerwartet den Ball. Mario Götze oder Thiago gerät ein Querpass zu kurz. Aber bitte: Selbst beim Quintuplesieger FC Bayern ist nobody perfect. Kleine Flüchtigkeitsfehler können auch den Besten mal unterlaufen.
Oder war das Absicht? Ja, Absicht: Den Ball scheinbar ungewollt, aber mit hintertriebenem Vorsatz dem Gegner in die Füsse spielen? Schon lange gibt es Leute, die behaupten, genau das lasse Pep Guardiola, der angehimmelte Coach, trainieren und womöglich sogar im Spiel umsetzen. Das habe der Katalane schon zu Barça-Zeiten gemacht.
Wie bitte?
Zuletzt sagte ARD-Kommentator Steffen Simon im Dezember beim Club-WM-Final FC Bayern gegen Casablanca: «Mitunter verlieren die Bayern den Ball bewusst, um ihn sich schnell wiederzuholen.» Das seien «neue taktische Varianten von Pep Guardiola». Die Idee: Wenn man angreifend in idealer Position steht, dann nicht etwa nur ein gut abgesichertes Risikodribbling versuchen sondern auf internes Kommando vorsätzlich unauffällig den Gegner in Ballbesitz kommen lassen.
Klingt bescheuert und wider alle Logik, macht in der Theorie aber durchaus Sinn: Der womöglich eiserne Defensivverbund des Gegners ist mit ersten Offensivgedanken beschäftigt, lockert minimal entspannt das betonartige Abwehrgebilde … und dann sticht man zu, jagt dem Gegner mit vehementem Offensiv-Pressing den Ball wieder ab und nutzt neue, kurzzeitig freie Räume zur Attacke. Bestenfalls zum Tor.
Und bitte: Zurückerobern durch Pressing kann man den Ball nur, wenn man ihn verloren hat. Warum also darauf warten – wenn bei 70 – 80 Prozent Ballbesitz der Gegner ohnehin kaum an die Pille kommt? Lieber selbst im idealen Moment den Ballverlust herbeiführen. Der Fehlpass, von stöhnenden Fans reflexartig bepfiffen, als kluge Innovation.
Die Fachleute in Deutschland
Aber ist das realistisch? Fussballaffine Freunde sind uneins. Tja, sagt M., «theoretisch würde das schon Sinn machen. Wenn man ihn bei all der Überlegenheit sonst kaum verliert …» Und im Spiel? «Vielleicht mal in Minute 90, wenn man hoch führt. Dann hätte man einen Plan, wie man sich verhält.» G. dagegen will das widernatürliche Treiben nicht glauben. Wiewohl er anfügt, trotz allen Fussballsachverstandes kein idealer Experte zu sein: «Gefühlt denke ich das Spiel immer noch mit Libero.»
Auf Höhe der Zeit ist sicher Christoph Biermann. Auch er sagt ohne jedes Zögern «nein, das gibt es nicht, auch nicht bei Pep Guardiola». Biermann ist Chef des Fussballmagazins 11 Freunde und Fachautor diverser Taktikbücher. Das Massenblatt Sportbild hatte Steffen Simon gleich abgekanzelt. Solche Thesen von «Valium-Simon», analysierte das Blatt, seien ja «haarscharf an der Grenze zur Comedy – oder bereits darüber hinaus».
Der absichtliche Ballverlust im Fussball – ähnlich wie das Bauernopfer im Schach.
Kenner der Szene ist auch der Sportchef einer grossen Münchner Zeitung. Er hält die Spekulationen für logisch: «Die sind nicht nur gut, die sind auch clever bei den Rothemden.» Thiago sei «der Prototyp einer solchen Strategie». Und hatte nicht Guardiola den um jeden Preis haben wollen! «Es wurde schon damals bei Barça darüber geredet», bestätigt der Bayern-Intimus, «dass Ballverlust zur Strategie gehört», ähnlich wie das Bauernopfer beim Schach.
Dann gerät der Mann ins Schwärmen von «überlegener Schwarm-Intelligenz bei Rückeroberung», und wechselt die halbe Zoologie ein: Sobald der Ball mal verloren ist «beschleunigen alle wie die Piranhas» – und hetzen nach der Beute. «Die Bayern-Hornissen holen sich das Ding wieder – und stossen in die in der kurzen Euphorie geöffneten Lücken zum brutalen Durchbruch.» Das werde selbstverständlich trainiert. «Und dann», glaubt er, «ist der Weg zur Absicht nicht mehr weit. Absolut überzeugend, die Idee. Das wahre Rasenschach.»
Die Fachleute in Spanien
Ein Intimus der spanischen Szene winkt ab. Er hält die Vermutung «für einen Mythos, der aber des öfteren wiederholt» werde. Im Training bei Barça habe er «noch nie eine Übung gesehen, bei der absichtlich der Ball verloren und dann gepresst wird». Zweifel bleiben ihm: «Aber Garantie übernehme ich nicht.»
Ein anderer Beobachter der Primera Division verweist auf den italienischen Trainer Fabio Capello als Kronzeugen, der mal gesagt habe, «dass das Verhalten ohne Ball immer das Innovative an Barças Fussball gewesen sei. Sinngemäss: «Die verlieren den Ball und machen einen Schritt nach vorn.» Aber das absichtlich tun oder provozieren? «Ich kann es mir nicht vorstellen.»
Die Trainergilde
Martin Hermanns, Jugendleiter des kleines Clubs Blau-Weiss Aachen-Burtscheid, verweist lächelnd auf seine F-Jugend, die da gerade über den Aschenplatz wieselt: Da gehöre – alle auf den Ball! – Ballverlust und sofortige Rückeroberung im sehr schnellen Wechsel quasi zum natürlichen Verhalten. Dann überrascht er mit grösster Selbstverständlichkeit: «Ich glaube, so etwas trainieren alle Bundesligamannschaften. Ein wichtiges taktisches Mittel.»
Und im Spiel absichtlich den Ball verlieren? «Das ist was anderes. Sicher, zuerst würde ich es den Bayern zutrauen. Aber wirklich absichtlich – das glaube ich eher nicht.»
Ewald Lienen: «Meine Mannschaften hatten immer genug Ballverlust – von allein.»
Ewald Lienen, einst Chefcoach in Duisburg, Köln und Gladbach, derzeit beim rumänischen Erstligisten Otelul Galati, hat den absichtlichen Ballverlust noch nie trainiert. «Meine Mannschaften hatten immer genug Ballverlust von allein», scherzt er. Seine Alternative: «Schnelles Umschalten kann man hervorragend mit einem plötzlichen zweiten Ball trainieren. Das lasse ich gern üben.»
Theoretisch denkbar sei der Vorsatzballverlust bei Mannschaften «wie Barcelona oder Bayern, vielleicht sogar Dortmund: Wer so selten den Ball verliert, bei deren höchster Qualität, der könnte auf die Idee kommen. Schwer vorstellbar, aber denkbar.»
Und im Spiel? «Das ist schwachsinnig, absolut abwegig», sagt Lienen. «Ziel des Spiels ist es, Tore zu erzielen und nicht speziell gut im Gegenpressing zu sein, auch wenn das zu Toren führen kann.» Dieter Hecking, Coach in Wolfsburg, winkt auch ab. «Ich habe den Ball lieber in den eigenen Reihen.» Vorsätzlich-strategisches Herschenken? «Nein, das habe ich nicht im Trainings-Repertoire.»
Jörg Schmadtke, Sportdirektor beim 1. FC Köln, kennt die Theorie schon lange, sagt er. Er traue den Bayern zwar «fast alles» zu, aber diese Idee hält er «für fast ausgeschlossen». Doch wer weiss, lästert Schmadtke, «vielleicht haben sie es in Salzburg erstmals probiert». Da verlor der sonstige FC Allesbesiegen vergangenen Samstag ein Testspiel 0:3. Beobachter führten die sensationelle Klatsche auf taktische Versuche mit der ungewohnten Dreierkette zurück.
Der FC Bayern selbst
Steffen Simon, der Auslöser, möchte sich auf Anfrage zur Causa nicht äussern. Wohl aber ruft Markus Hörwick, Mediendirektor des FC Bayern, auf schriftliche Anfrage persönlich und so umgehend zurück, dass man an einen Stich ins Wespennest glauben möchte. «Wo haben Sie das denn her?», brummt er, ohne eine Antwort zu verlangen. Nun, man gebe zwar grundsätzlich «keine Auskünfte zu taktischen Dingen», wiewohl er diese Vermutung kommentieren möchte: «Mit einem Wort: abenteuerlich». Bei Pep Guardiola sei «Ballbesitz das Zauberwort und nicht Ballverlust». Aber – siehe da: «Gehört habe ich die Gerüchte zu Guardiolas Barcelona-Zeiten auch schon.»
Das Fazit
Man will es wahrlich nicht glauben. Aber man traut es den allmächtigen Pep-Münchnern trotz aller Dementis und Argumente irgendwie doch zu. Darüber hatte sich auch Bayern-Direktor Hörwick gefreut: «Da können Sie mal sehen …» Das Schönste an der Debatte: Jeden tölperten Ballverlust könnte ein Spieler in Zukunft zur Strategie umdeuten.
Disziplinenübergreifend weitergesponnen: Da ist der Boxer, der sich erst niederschlagen lässt, um den unvorsichtigen Gegner dann auszuknocken. Der Hochspringer, der mit Absicht reisst, um den Konkurrenten in Sicherheit zu wiegen. Oder der Basketballer, der in den falschen Korb trifft. Und der Fussballstar sagt demnächst im Interview mit treuem Blick: «Ich hab den Ball nicht verdaddelt. Ich handelte auf höhere Weisung.»
Den Rückrundenauftakt des FC Bayern heute Abend in Mönchengladbach wird man sich mit ganz anderen Augen ansehen können. Was für ein cleverer Fehlpass von Philipp Lahm.
Frank Wormuth, Leiter der Fussballlehrerausbildung beim Deutschen Fussballbund (DFB):
«Die Hennes-Weisweiler-Akademie erwähnt im Rahmen der Ausbildung des Pressingverhaltens, speziell des Gegenpressings bereits seit vier Jahren den «geplanten Fehlpass». Ein Pass unter Druck beziehungsweise auch unter keinem Druck des Gegners, der in den Rücken der gegnerischen Abwehr und in deren Halbraum geschlagen wird. Wichtig ist, dass der Ball nicht ins Aus geht, aber auch nicht so platziert wird, dass der Torhüter den Ball erobern kann.
Die Folge ist, dass der Gegner den Ball aufnimmt, sich normalerweise öffnet und dadurch Räume schafft. Da der Ballführer den Ball mit dem Rücken zum Spiel abholt, ist dies ein typisches Signal für die Mannschaft, die den Fehlpass absichtlich gespielt hat, zu pressen. Erobert man den Ball nun zurück, ist der Gegner in einer weniger guten Abwehrposition und die Wahrscheinlichkeit einer Torchance erhöht sich. Dies kann ohne Probleme geübt und auch im Spiel angewendet werden und ist zudem eine Reaktion einer Mannschaft, die gerne ins Gegenpressing geht.»