«Unsere Mannschaft liegt in Trümmern», sagt Bayerns Vorstandsvorsitzender Karl-Heinz Rummenigge nach dem Ausscheiden gegen Real Madrid. In einem Spiel, dessen erste Halbzeit wie ein Wildwestfilm war, die zweite wie ein Psychothriller, schreibt auch der Schiedsrichter die Geschichte. Seinetwegen wählen die Münchner unerhörte Worte.
70 Jahre steht das Estadio Santiago Bernabéu schon, aber wahrscheinlich wurde in diesem erfolgsverwöhnten Haus noch nie ein Ausgleichstreffer mit so viel Inbrunst gefeiert. Die Ersatzspieler fielen über den Schützen Cristiano Ronaldo her, manche wie Álvaro Morata wollten gar nicht mehr von ihm lassen. Anderswo kniete Casemiro mit gebeugtem Kopf auf dem Rasen und trommelte auf die Spielfläche, wie in Trance.
Wenn jemand noch Zweifel hatte, dass das meistgespielte Duell der Europapokalgeschichte zwischen Real Madrid und Bayern München seinen Titel als «europäischer Clásico» verdient – am Dienstagabend wurden sie wohl für längere Zukunft ausgeräumt.
Nach einer bisweilen irren Dramaturgie vertrieb Casemiro mit seinem Hämmern eine böse Ahnung, die drohend über Real geschwebt hatte. Drauf und dran waren die Madrilenen, ihre 2:1-Auswärtsbeute aus dem Hinspiel noch zu verjubeln. Die Zuschauer murrten, manche pfiffen sogar gegen Cristiano Ronaldo, der aller Welt vor Augen führte, dass er viele seiner Stärken verloren hat, die Schnelligkeit allen voran. Der aber trotzdem als dreifacher Torschütze das Stadion verliess, noch lange akklamiert in den umliegenden Strassen.
«Ich habe heute zum ersten Mal so etwas wie eine wahnsinnige Wut in mir. Weil wir beschissen worden sind.»
Karl-Heinz Rummenigge
Beide Tore vorige Woche in München, drei nun bei diesem 4:2 nach Verlängerung im Rückspiel, alle im Strafraum. Ronaldo wird immer mehr zum Mittelstürmer und belegt jetzt schon wieder die Pole Position für seine geliebte Weltfussballerwahl; in einem Jahr ohne WM oder EM. «Vielleicht pfeifen sie ihn nach heute ja nicht mehr aus», hofft sein Trainer Zinédine Zidane. «Vorher ein bisschen besser nachdenken bei allem, was er für uns getan hat», rät Captain Sergio Ramos.
Ronaldo und sein geliebtes Objekt – der Ball sein Freund, der goldene sein Ziel. (Bild: Reuters/Sergio Perez)
Wer es martialisch mag, kann ihn den Exekutor der Bayern nennen. Deren Vorstandsvorsitzender Karl-Heinz Rummenigge mag es offenkundig martialisch, er sagte nach dem vierten Europacup-Ausscheiden nacheinander gegen einen spanischen Gegner: «Unsere Mannschaft liegt in Trümmern.»
Bayern war mit vielen Rekonvaleszenten angetreten
Das war durchaus wörtlich gemeint, denn die Münchner waren ja mit mehreren Rekonvaleszenten angetreten, die nur wegen der akuten Schieflage im Hinblick auf das Saisonziel Champions League aufliefen: Stürmer Robert Lewandowski sowie vor allem die Innenverteidiger Jérôme Boateng und Mats Hummels.
Wie das Duo fehlende Gesundheit durch die hohe Schule der Verteidigerkunst wettmachte, verlieh dem bayerischen 2:1 nach 90 Minuten in Madrid noch einen zusätzlichen Hauch von Heldentum. «Wir haben alles auf den Platz geworfen, was wir hatten», sagte der über weite Strecken überragende Hummels. Und über alles andere werden sie in München wohl noch viele Wochen im Konjunktiv spekulieren.
«Wir hatten schon viele schwierige Spiele, aber heute war das schwierigste.» Reals Trainer Zinédine Zidane
Fest steht: Madrid schaffte es trotz der komfortablen Ausgangslage nie, die Partie zu kontrollieren. Nicht im Wildwestfilm der ersten Halbzeit, nicht im Psychothriller der zweiten. Die Bayern führten herbei, was ihnen als torbedürftigere Mannschaft am gelegensten kam, einen offenen Schlagabtausch, und sie wurden dafür mit Komplimenten überschüttet. Den «mit Abstand besten Gegner» sah Zidane, und der tritt immerhin auch öfter gegen den FC Barcelona an, schon diesen Sonntag etwa wieder im Clásico. «Wir hatten schon viele schwierige Spiele, aber heute war das schwierigste.»
Fest steht auch: Für die Münchner ging es erst dahin, als Hummels in der 104. Minute nach einem Eckball humpelnd aus dem gegnerischen Strafraum zurückkam. Eine Minute später fiel der Ausgleich, der die Waage zu Reals Gunsten ausschlagen liess. Die weiteren Treffer zum 4:2 wurden von den Bayern kaum noch verteidigt, sie waren am Ende ihrer Kräfte, schliesslich spielten sie in diesem Moment zu allem Überfluss nur noch zu zehnt.
Fest steht nämlich vor allem der Schuldige aus Münchner Sicht: der Schiedsrichter. Lewandowski, Arturo Vidal und Thiago Alcantára mussten nach spanischen Medienberichten sogar von der Polizei aus dessen Kabine abgeführt werden, so gefährlich hätten sie ihn beschimpft. «Heftig, dass man dir so ein Spiel klaut», sagte Vidal danach. «Der Schiedsrichter hat uns rausgeworfen. Real hatte keinen Stich. Alle Welt, die etwas von Fussball versteht, hat das gesehen.»
Schiedsrichter Viktor Kassai aus Ungarn erwischte einen «eklatant schlechten Tag», sagt Bayerns Verteidiger Mats Hummels
Thiago orakelte: «Externe Elemente, die ihr alle kennt, haben uns eliminiert.» Die besonneneren Charaktere im Team äusserten sich weniger drastisch, aber in der Sache ähnlich. Selbst der sonst notorisch tiefenentspannte Trainer Carlo Ancelotti schimpfte: «Die Uefa muss entweder einen besseren Schiedsrichter schicken oder den Videobeweis einführen.»
Unverständnis nach der zweiten gelben Karte: Arturo Vidal wird vom Platz gestellt. (Bild: Reuters/Michael Dalder)
Noch einen Schritt weiter ging Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge an seiner traditionellen Bankettrede: «Ich habe heute zum ersten Mal so etwas wie eine wahnsinnige Wut in mir. Weil wir beschissen worden sind.» Und als ob er sich seiner unerhörten Worte versichern wollte, wiederholte er: «Wir sind beschissen worden.» Es folgte donnernder Applaus der anwesenden Sponsoren und Gäste.
Bayern wäre bei normalen Pfiffen wohl nicht mal in die Verlängerung gekommen
Dass Viktor Kassai aus Ungarn einen «eklatant schlechten Tag» (Hummels) erwischt hatte, war unbestritten. Er lag in kaum einer Schlüsselentscheidung richtig, und die Münchner hatten daran letztlich schwerer, aber nicht ganz so exklusiv zu tragen, wie sie es darstellten.
Sie wären bei normalen Pfiffen wohl nicht mal in die Verlängerung gekommen, denn der Elfmeter zum 0:1 (Casemiro an Arjen Robben) war nicht unumstritten und das 1:2 durch ein Eigentor von Sergio Ramos hätte wegen einer vorangegangenen Abseitsstellung wohl nicht zählen dürfen. Danach benachteiligte Kassai dann tatsächlich massiv die Bayern. Ronaldos 2:2 auf Flanke von Sergio Ramos fiel aus klarer, sein 3:2 nach brillantem Solo des überragenden Marcelo aus knapper Abseitsposition. Und Vidal kassierte sein zweite gelbe Karte, die in der 84. Minute Bayerns Unterzahl verursachte, für ein regelkonformes Tackling.
Zwei grosse Spieler erleben ihren letzten Europacup-Abend
Zu den Konjunktiven des Abends gehört allerdings auch, dass er für andere Fouls zuvor bereits die zweite Verwarnung bekommen konnte. Seit der Anfangsphase war der Chilene ein Platzverweis im Wartestand. Dennoch nahm Ancelotti kurz vor der verhängnisvollen Szene nicht ihn für Thomas Müller vom Platz, sondern seinen Mittelfeldkollegen Xabi Alonso. Wie schon im Hinspiel, als Bayern ohne die Absicherung durch den Spanier überrollt wurde, ebenfalls in Unterzahl.
Auch solches Coaching oder der vorige Woche verschossene (unberechtigte) Elfmeter von Vidal zählen zu den «Details, an denen sich der Gewinn der Champions League entscheidet» (Ancelotti).
So wüst war die Polemik, so viel hatte die Partie geboten, dass ein feierlicher Aspekt der Nacht erst allmählich in den Vordergrund rückte: Mit Philipp Lahm und Xabi Alonso bestritten zwei prägende Figuren des letzten Jahrzehnts ihr letztes Europacup-Spiel. «Da haben zwei grosse Spieler heute auf passende Weise, mit einem grossen, spektakulären Spiel ihre Champions-League-Karriere beendet», sagte Hummels, und wie aufgeräumt es beide taten, zeigt, dass sie den richtigen Moment gewählt haben.
Alonso schlenderte später lächelnd durch den Ausgangsbereich. «Philipp und ich haben es beide bis zum letzten Moment genossen», sagte er und erinnerte unausgesprochen daran, dass Ausreden und Schuldzuweisungen letztlich nur etwas für Verlierer sind. «Es ist schade, aber es muss weitergehen. Das ist der Bayern-Spirit: immer weitermachen.»
Auf der Seite der Verlierer: Thomas Müller tröstet David Alaba. (Bild: Reuters/Susana Vera)