Ohne sie könnte kein Fussballspiel stattfinden. Dankbarkeit können sie trotzdem nicht erwarten. Ein Sonntag unterwegs mit Schiedsrichtern auf den regionalen Fussballplätzen.
In Allschwil rufen die Glocken die Gläubigen in die Kirche. Auf dem Sportplatz «Im Brüel» sitzt ein älteres Ehepaar vor der Beiz. Sie trinkt Kaffee, vor ihm steht eine Halbliterflasche Bier. Gespräch überflüssig. Sonntagmorgen, zehn Minuten vor zehn in diesem gesichtslosen Gewerbegebiet am Bachgraben. Die Luft riecht nach Herbst, die Maschine einer Billig-Airline dröhnt im Sinkflug.
Zum 75. Geburtstag des Fussballverbandes Nordwestschweiz kommt es zu einer Kooperation mit der TagesWoche. Das Ziel: Online soll eine interaktive Geschichte des Fussballs in der Region entstehen, auf der die wichtigsten Ereignisse des regionalen Fussballs, Anekdoten und Erinnerungen auf einer Zeitleiste dargestellt werden.
Auf dem Kunstrasen spielen sich zwei Mannschaften ein. Regionaler Fussball, 4. Liga, Gruppe vier – zweittiefste der neun Schweizer Spielklassen, FC Allschwil gegen den FC Münchenstein. Es geht – objektiv gesehen – um nichts. Und doch um alles. Ein Fussballspiel, das sind 90 Minuten verdichteter Gefühle. Kleine persönliche Siege, als dramatisch empfundene Niederlagen, das Funktionieren im Team, sich messen mit dem Gegenspieler. Egal auf welcher Stufe.
Drei vor zehn, die Mannschaften sammeln sich am Spielfeldrand, suchen noch einmal das Gefühl in der Gruppe. Nur einer steht alleine da, am Anspielkreis. Christoph Droll hat auf diesem Platz keine Kumpels, die seine Fehler ausbügeln könnten. Christoph Droll ist Schiedsrichter. Einer von 300 in der Region. Pro Wochenende sind 200 von ihnen auf den Plätzen unterwegs und pfeifen von den C-Junioren bis zur 2. Liga interregional.
Gekaufte Referees – anders
Sechs Minuten dauert es, bis Droll ein erstes Mal Foul pfeift. Es geht – natürlich – nicht ohne Protest des Spielers ab, gegen den er entscheidet. Ein Allschwiler, der eben noch wegen eines Abseits-Pfiffs reklamiert hat, trifft kurz darauf aus sechs Metern das leere Tor nicht. Alltag in den unteren Ligen, wo der Anspruch der Spieler an die Schiedsrichter meist höher ist als ihr eigenes Können.
Die meisten werden nicht Schiedsrichter, weil sie schon als Kind davon träumten. Sondern aus Pflichtbewusstsein. So wie Droll. Würde der 32-Jährige nicht Sonntag für Sonntag Spiele leiten, hätte das für seinen Verein, den FC Gelterkinden, Konsequenzen. Die Clubs sind verpflichtet, Schiedsrichter zu stellen. Sind sie dazu nicht in der Lage, wird gebüsst – bis hin zum Rückzug von Teams.
Dieser Zwang führt zu einem kleinen Transfermarkt. Clubs versuchen, Schiedsrichter anderer Vereine abzuwerben, auch mit Geld. Gekaufte Schiedsrichter – für einmal anders. Droll ist bisher einmal angefragt worden. Aber er hat abgelehnt. Zu eng sei er mit dem FC Gelterkinden verbunden. Erfährt er dafür Wertschätzung im Verein? Droll, die Schultern immer etwas hochgezogen, die Brille bei hellem Licht selbsttönend, zögert. Findet, jetzt müsse er aufpassen. Und sagt dann doch: «Es ist weniger, als nötig wäre. Vielleicht fehlt das Bewusstsein.»
Willkommen im Teufelskreis
Dabei würden ohne Schiedsrichter überhaupt keine Matches stattfinden. Aber das sei den Spielern viel zu wenig bewusst, findet Markus Comment. Der Präsident der Schiedsrichterkommission des Fussballverbands Nordwestschweiz sitzt in seinem Büro und beklagt eine Art Teufelskreis.
Weil Schiedsrichter wenig Respekt bekommen, will kaum jemand den Job machen. Und weil nur wenige Schiedsrichter werden wollen, kann die Qualität der Spielleiter kaum steigen, was wieder zu mehr Gemotze während der Matches führt. So sieht es Comment: «Wenn wir eine grössere Auswahl hätten, könnten wir auch sieben. Aber das begreifen die Fussballer wohl nie.»
Im Gegenteil. «Blitzableiter für alles, was den Spielern unter der Woche passiert ist» seien die Schiedsrichter, klagt Comment. Trotzdem stimmt er nicht in den Chor jener ein, die finden, alles werde immer schlimmer. Auch wenn der Fussball in den unteren Ligen nur dann Schlagzeilen macht, wenn wieder ein Spiel wegen Gewalt gegen Schiedsrichter abgebrochen wurde
Und ewig wird gemotzt
Das wirkt dann so, als ob die Szenen immer wilder würden. Doch das will Comment so nicht bestätigen: «Ich kann keinen Trend erkennen. Weder, dass es schlimmer wird, noch, dass es besser wird.» Überhaupt plädiert er für einen nüchternen Blick auf die Zahlen: «Wir haben pro Saison rund 8000 Spiele. Davon werden vielleicht fünf abgebrochen. Das sind immer noch fünf zu viel. Aber man soll nicht dramatisieren.»
Zur Pause führt Allschwil 3:0. Droll ist durchaus zufrieden mit sich und dem Niveau des Spiels. Bloss das ewige Kommentieren nervt. Also erklärt er dem Allschwiler Captain: «Wenn das Gerede nicht aufhört, greife ich gnadenlos durch!»
Ein Satz, der Marco Kobi wohl gefallen hätte, hätte er ihn gehört. Kobi pfeift selbst seit Jahrzehnten. Doch heute ist er da, um seinen Kollegen Droll zu inspizieren, was nur einmal im Jahr geschieht. Es ist die einzige Chance für einen Schiedsrichter, in eine höhere Liga eingeteilt zu werden. «Wer da einen schlechten Tag erwischt, hat Pech gehabt und muss ein weiteres Jahr warten», gibt Comment die Schwächen des Systems zu. Aber wo Schiedsrichtermangel herrscht, da fehlen eben auch die Inspizienten.
Erst wird das Bier geöffnet – dann die Schiedsrichterkabine
Kobi beurteilt natürlich die Regelkenntnis. In erster Linie aber geht es ihm nicht um die Entscheidungen selbst, sondern darum, wie Droll sie verkauft: «Ist er unsicher, zögert er?» Und da ist der Inspizient an diesem Morgen nicht völlig zufrieden. Als es fast zu einer Rangelei kommt, erklärt er: «Da marschiert er mir zu gemütlich auf sie zu, da müsste er aktiver sein.»
Trotzdem, das Spiel, das in Hälfte eins hektisch zu werden drohte, geht ruhig zu Ende. Allschwil gewinnt 4:1, die Leistung des Schiedsrichters liegt für den Inspizienten «in den Erwartungen». Und Christoph Droll sucht jemanden, der ihm die Kabine öffnet. An diesem Tag wird in Allschwil nach dem Spiel nämlich zunächst die Bierflasche geöffnet – und erst dann die Schiedsrichtergarderobe.
Ein Beispiel dafür, wie einsam der Schiedsrichter auf den regionalen Plätzen sein kann. Das beginnt schon bei der Ausbildung. Zweieinhalb, drei Tage dauert der Grundkurs, danach werden die angehenden Schiedsrichter einmal von einem erfahreneren Kollegen an eine Partie begleitet. Und schon müssen sie sich, abgesehen von der Inspektion und zwei Lehrabenden im Jahr, selbst durchschlagen.
Die jungen Schiedsrichter werden enger begleitet
Dass das nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann, hat inzwischen auch der Schweizerische Fussballverband SFV erkannt. Darum nimmt er talentierte Jung-Schiedsrichter in sein Programm «Footeco» auf. Dort werden bei den U13-Junioren nicht nur spezielle Massnahmen getestet, welche die Ausbildung junger Fussballer verbessern sollen, sondern auch jene der jungen Spielleiter.
Diese werden von einem erfahrenen Schiedsrichter vor, während und nach den Spielen gecoacht. Ivan Piccolo ist einer der Jungen, der so ausgebildet wurde. Der ehemalige Spitzenschiedsrichter Claudio Circhetta hat den heute 19-Jährigen ein Jahr lang begleitet und angeleitet.
Es ist zwölf Uhr dreissig und in der Schiedsrichtergarderobe auf den Sportanlagen St. Jakob bereitet sich Piccolo auf seinen Einsatz vor. Wie Droll darf auch er bis zur 4. Liga pfeifen. Doch der KV-Lehrling hat weit höhere Ziele. Er ist in der nordwestschweizer Fördergruppe, die regelmässig Video-Analysen betreibt. Und er sagt ganz zielstrebig: «Natürlich möchte ich einmal in der Super League Spiele leiten. Aber das ist ein langer Weg.»
Via Feld 15 in die Super League
Dieser führt ihn zunächst auf Feld 15 der Sportanlagen, wo die U14 des FC Concordia auf den FC Sion trifft. Es ist erstaunlich, wie krass der Gegensatz zwischen Junioren- und Erwachsenen-Fussball sein kann. Kein Spieler wagt es, Piccolos Entscheide zu kritisieren, keine Wortgefechte zwischen den Spielern, nichts. Wenn mal gemotzt wird, sind es die Trainer oder die Eltern, die aufs Feld rufen. Den Unterschied fasst Piccolo in zwei Sätze: «In zwei Jahren Juniorenfussball habe ich nicht einmal eine rote Karte gezeigt. Und in meinem ersten 4.-Liga-Spiel musste ich gleich Rot zücken.»
Piccolo und der FC Sion haben sich für die Partie jeweils eine relativ einfache aber wirksame Taktik ausgedacht. Der Schiedsrichter pfeift zu Beginn der Partie konsequent auch kleinste Schubser ab: «Da bin ich extra etwas pingelig.» Tatsächlich gibt es nach zwanzig Minuten fast keine Fouls mehr.
Die Sittener ihrerseits stellen ihre beiden Grössten in den Sturm, die jeden Basler um mindestens einen Kopf überragen. Auch dieser Plan geht auf. Nach zwei Minuten enteilt Nummer 9 ein erstes Mal – 0:1. Am Ende haben die beiden Grössten auf dem Feld je drei Tore geschossen. Sion gewinnt 7:0. Piccolos grösstes Problem: An das Pausengetränk zu kommen, für das der Heimclub zuständig wäre. Ein ruhiges Spiel.
Ein Spätberufener und ein nervöses Spiel
Ein ruhiges Spiel? Darauf kann Mario Grava kurz vor drei Uhr nur hoffen. Der FC Sloboda, dessen 3.-Liga-Partie gegen Concordia er leiten wird, wurde in der laufenden Saison bereits wegen eines Spielabbruchs mit drei Punkten Abzug bestraft. Eng sind die Verhältnisse auf dem Sportplatz Rankhof, ständig fliegen Bälle von den angrenzenden Feldern ins Spiel.
Grava ist ein Spätberufener. Erst mit 43 wurde er Spielleiter – weil er selbst als Trainer einen Schiedsrichter so lange genervt hatte, bis ihm dieser zurief, er solle es doch besser machen. Zehn Jahre später sagt Grava: «Er hatte recht. Einfach ist es nicht.»
Die Partie wird nervös, artet aber nie aus. Die Spieler von Sloboda sind nach dem Punktabzug offensichtlich bemüht, die eigenen Emotionen zu zügeln. Dafür wird jeder Pfiff von den Zuschauern kommentiert, die sogar ein Muster in der Zuteilung der Referees erkennen wollen. «Wenn wir gegen einen türkischen Club spielen, pfeift ein Türke», klagt ein Anhänger des Clubs mit serbischen Wurzeln, «wenn wir gegen Concordia spielen, kommt ein Schweizer. Sagen Sie selbst: Ist das richtig?» Spielen hier Nationen gegeneinander? Die Spieler von Concordia tragen Namen wie Petrovic, Prezmecky oder Cakmakkiran.
Ein nackter Po für die Freundin
Grava versucht das Spiel mit konsequentem Auftreten im Griff zu haben. Neben dem Feld: Seine Lebenspartnerin Yvonne Bottazzini. Es sind nicht nur angenehme Wochenenden, die sie so verbringt. Sie hat erlebt, wie ihr Freund angespuckt wurde. Und weil sie inzwischen als die Freundin des Schiedsrichters erkannt wird, hat ihr in Pratteln ein aufgebrachter Spieler seinen «nicht sehr attraktiven nackten Hintern» präsentiert. Trotz solcher Erlebnisse pfeift Grava weiter: «Weil ich den Fussball liebe.»
1:0, 1:1, 2:1, 2:2, 3:2 – je länger das Spiel dauert, um so hektischer wird es. Zehn Minuten vor Abpfiff sieht ein Sloboda-Spieler in einer Minute Gelb und Gelb-Rot. In der 93. Minute folgt ein Teamkollege ebenfalls mit der zweiten Verwarnung. Dann ist Schluss, man gibt sich die Hand.
Ein Sonntag, 6 Mannschaften, 17 Tore, 12 Verwarnungen, 2 Platzverweise, 3 Schiedsrichter. Sie werden auch am kommenden Wochenende auf dem Platz stehen. Ihr Bestes geben. Und hoffen, dass die, die ohne sie nicht spielen könnten, das auch so sehen.
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 04.10.13