Die Fans kämpfen wie Löwen gegen den Abriss ihrer Höhle

Der Höhle der Löwen droht der Abriss. Das Stadion des Millwall FC soll einem Stadtentwicklungsprojekt weichen, doch die berühmt-berüchtigten Fans mobilisieren gegen die Pläne.

Klein, aber fein: Ins Den passen 20'146 Zuschauer.

(Bild: Gloworm 44 / Wikipedia / CC)

Der Höhle der Löwen droht der Abriss. Das Stadion des Millwall FC im Süden von London soll einem Stadtentwicklungsprojekt weichen, doch die berühmt-berüchtigten Fans mobilisieren gegen die Pläne. Entgegen kommt ihnen, dass der Bauherr dubios ist. Ein Stück zur Überbrückung der Länderspielpause für hartgesottene Fussballfans.

Kurz vor Spielbeginn ist gerade noch genug Zeit, sich ordentlich aufzuregen. Das Wort, das der etwa 50-jährige James verwendet, als er um seine Meinung zur Bezirksbehörde von Lewisham gebeten wird, ist nicht fein – es gilt sogar als eines der schlimmsten in der englischen Sprache: «Cunts», sagt der Mann in der Millwall-Trainingsjacke.

«Corrupt cunts.» Gleich ist man versucht, den kurzen Wutausbruch als eine Bestätigung des Vorurteils zu sehen: So sind sie also, die Millwall-Fans. Verbal verroht, darum wohl auch so gewalttätig, wie man allgemein sagt. Dabei gibt es einen guten Grund für harte Worte: Der Fussballklub droht seine Heimat zu verlieren.

Das Stadion des Millwall FC liegt nicht in Millwall, sondern in Bermondsey, einem ehemaligen Industrieviertel südöstlich des Bahnhofs London Bridge. Nachdem der Zug an einem Sonntagnachmittag Ende Januar in South Berdmondsey eingefahren ist, drängen Hunderte Fans auf den Bahnsteig und machen sich auf zum Stadion, genannt: The Den – die Höhle.

Die Lions, wie der Klub auch bezeichnet wird, kicken in der drittklassigen Football League One und heute steht ein Spiel gegen Watford an. Im Gemenge auf dem Bahnsteig bietet sich nur eine kurze Gelegenheit, einen Blick nach Osten zu werfen: Dort erheben sich die Hochhäuser des Finanzdistrikts Canary Wharf, auf der Isle of Dogs gelegen, auf der der Fussballklub im späten 19. Jahrhundert gegründet wurde.

Die Halbinsel war damals noch das Herz der Londoner Industrie. In den Docks wurden jeden Tag tonnenweise Waren aus dem Kolonialreich an Land geschafft und in den umliegenden Produktionsbetrieben verarbeitet. Eine Gruppe von Arbeitern der Konservenfabrik J.T. Morton beschloss, ein Fussballteam zusammenzustellen. Im Oktober 1885 bestritt der Millwall FC seine erste Partie – er verlor 0:5.

Bis in die 1960er-Jahre durfte Millwall seine Spiele als einziger englischer Klub um 15.15 Uhr beginnen, nicht wie üblich um 15 Uhr: Die Dockarbeiter, die den Grossteil der Fans ausmachten, wären sonst nach ihrem Schichtende nicht rechtzeitig vom Hafen ins Stadion gekommen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zog der Klub nach New Cross, südlich der Themse, und seit 1993 sind die Lions im heutigen Stadion in Bermondsey zu Hause.

 Stadtentwicklung in London: Den Kommunen mangelt es an Geld, deshalb lassen sie private Bauentwickler so bauen, wie diese möchten.

Schmuck ist die Gegend nicht. Auf dem Weg zum Den kommt man an einer Reihe von Kleinbetrieben vorbei, hinter dem Stadion ist eine Abfallverwertungsanlage zu sehen, und daneben reihen sich Lagerhallen aneinander. Aber weil wir in London sind, wo jedes noch so schäbige Stück Land eine potenzielle Goldgrube ist, geriet auch die Heimat von Millwall ins Visier der Bauentwickler.

Im September 2016 gab der Bezirksrat von Lewisham grünes Licht für ein milliardenschweres Stadtentwicklungsprojekt namens New Bermondsey, das den Abriss des Stadions vorsieht. Der Fussballklub sollte irgendwo in der Grafschaft Kent südöstlich von London eine neue Heimat finden.

In der britischen Hauptstadt sind solche Pläne ständiger Teil der Stadtentwicklung: Den Kommunen mangelt es an Geld, deshalb lassen sie private Bauentwickler so bauen, wie diese möchten. Aber der Deal, den der Bezirk Lewisham mit dem Bauträger Renewal schloss, schien selbst für Londoner Verhältnisse ungewöhnlich krumm.

Eine Petition sammelte 25’000 Unterschriften gegen das Projekt, aber am «Ende geht es nur ums Geld».

Das Unternehmen, das sich als Spezialist für Regeneration bezeichnet, wurde von zwei ehemaligen Bezirksräten gegründet und ist in den Schattenfinanzzentren British Virgin Islands und Isle of Man registriert. Bald kamen Dokumente ans Licht, die den Verdacht erweckten, Renewal wolle das Grundstück kurz nach dem Erwerb profitabel weiterverkaufen – ein Vorwurf, den der Bauträger freilich zurückweist.

Kaum bestreiten lässt sich hingegen, dass die Verantwortlichen falsche Versprechungen machten: Sie behaupteten, die staatliche Organisation Sport England habe dem Projekt zwei Millionen Pfund zugesagt. Renewal brüstete sich mit Plänen für ein neues Indoorsportzentrum, das den Verlust des Stadions wettmachen sollte. Die versprochenen Gelder von Sport England dienten als eine Art Gütesiegel für das Projekt. Aber eine Recherche des «Guardian» ergab, dass eine solche Abmachung nicht existiert.

Die Millwall-Fans, die auch heute noch überwiegend der Südlondoner Arbeiterklasse angehören, wehrten sich von Anfang an gegen die dubiosen Pläne der Bezirksregierung. Eine Petition sammelte 25’000 Unterschriften gegen das Projekt, und die Kampagne wurde von Prominenten unterstützt. «Defend the Den!», twitterte etwa Gary Lineker an seine fünfeinhalb Millionen Follower.

Ende Januar beugte sich der Bezirksrat dem Druck: Der Compulsory Purchase Order, also der erzwungene Verkauf des Grundstücks, auf dem das Stadion steht, wurde ausgesetzt. Dass die Geschichte damit zu Ende ist, bezweifeln die Fans. «Ach, die werden zurückkommen mit ihren Plänen», sagt Stanley Godwin, ein pensionierter Lokführer, im Café des Klubs, gleich neben dem Stadion. Sein Akzent erinnert an die alten britischen Gangsterfilme, in denen alle Bösewichte aus dem East End stammen. «Am Ende geht es nur ums Geld.»

Godwin ist Millwall-Fan, seit ihn sein Grossvater 1963 zum ersten Mal zu einem Spiel mitnahm. Er hat die Geschichte seines Vereins verinnerlicht, Derbys aus den 1970er- und 1980er-Jahren haben für ihn die Bedeutung einschneidender historischer Ereignisse. Er nennt die Namen damaliger Spieler und Trainer mit einer Selbstverständlichkeit, als müsse sie jeder halbwegs gebildete Mensch kennen.

Das war auch die Zeit, als Millwall vor allem für Gewaltexzesse bekannt war und in einem Atemzug mit Hooliganismus genannt wurde. Regelmässig kam es nach Spielen zu Krawallen, auf den Tribünen fielen rassistische Sprüche, Spielfelder wurden gestürmt, Zuschauer gingen mit blauen Augen und blutenden Köpfen nach Hause. Federführend bei diesen Zusammenstössen waren die berüchtigten Firms, unter denen die Millwall Bushwackers einen besonders schlechten Ruf genossen. «No one likes us. We don’t care», skandierten die Fans stolz.

Das Problem mit dem Ruf als gewalttätigste Hooligans der Insel

Godwin bestreitet nicht, dass der Klub damals Probleme mit einem Teil seiner Fans hatte – wenn er auch selbst nie Teil jenes Haufens Idioten gewesen sei, wie er die Hooligans nennt. Doch erstens seien andere Vereine nicht viel besser gewesen, und zweitens werde die Gewaltbereitschaft der Millwall-Fans von den Medien bewusst übertrieben – und zwar bis heute.

Godwin nennt das Beispiel der Zusammenstösse vom August 2009: Bei einem Spiel gegen den Erzrivalen West Ham United brachen zwischen den Fans heftige Auseinandersetzungen aus, die Polizei rückte in Krawallmontur an. Ein Mann wurde mit einem Messer verletzt.

In den Fernsehstudios und Zeitungskolumnen fragte man sich, ob England vor einer Rückkehr zum Hooliganismus der 1980er-Jahre stehe. Damit wurde der Ruf von Millwall erneut zementiert, während das Urteil des Verbands einige Monate danach eher unterging: Aufgrund des Verhaltens der Fans musste West Ham eine Busse von 115’000 Pfund entrichten, wohingegen Millwall in allen Punkten freigesprochen wurde.

2013 rettete Millwall die Notaufnahme des lokalen Spitals, aber der Ruf bleibt.

Bei allen Vorurteilen gegen den Verein werde vergessen, wie stark sich der Klub für das Viertel und seine Einwohner engagiere, sagt Godwin: «Der Millwall Community Trust arbeitet mit unterprivilegierten Kindern und ehemaligen Gangmitgliedern zusammen.»

Vor vier Jahren, als der konservative Gesundheitsminister die Notaufnahme des nahen Lewisham Hospital aus Kostengründen schliessen wollte, beteiligten sich Spieler und Fans an der Kampagne, dank der das Spital schliesslich gerettet wurde. Zudem organisiert der Klub Sportaktivitäten für Behinderte und Betagte.

Insgesamt, so schätzt die Stiftung, hat der Bezirk Lewisham dank ihrer Arbeit letztes Jahr über sieben Millionen Pfund gespart. «Der Bauträger, Renewal, ist daran nicht interessiert. Ihm geht es nur um den Profit. Für die Gemeinschaft wäre das Regenerationsprojekt ein Desaster.»

Millwall hatte dem Bezirksrat seine eigenen Pläne vorgelegt: erschwingliche Wohnungen, Unterkünfte für Studenten, Geschäfte und Büroräumlichkeiten.

Dass das Viertel einen Facelift dringend nötig hat, ist jedoch auch für die Millwall-Fans klar. Die Zeichen des industriellen Niedergangs sind in South Bermondsey überall zu sehen und wenn die Tausenden Fans nach dem Spiel verschwunden sind, machen die Strassen rund um das Stadion einen eher trostlosen Eindruck.

«Die Frage ist jedoch, wie man die Sanierung aufzieht», sagt Godwin. Millwall hatte dem Bezirksrat seine eigenen Pläne vorgelegt: erschwingliche Wohnungen, Unterkünfte für Studenten, Geschäfte und Büroräumlichkeiten, dazu ein Hotel und ein Konferenzzentrum. Auch der Millwall Community Trust sollte ein neues Zuhause erhalten.

Ob diese Pläne jetzt wieder auf den Tisch kommen, darüber will Godwin nicht spekulieren. «Zuerst wollen wir schriftliche Garantien, dass die Pläne von Renewal endgültig Geschichte sind», sagt er und klopft mit dem Finger auf den Tisch. «Vorher glaube ich gar nichts.»

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