Für viele Russen machen die Olympischen Spiele in Sotschi keinen Sinn mehr: Ihr Eishockeyteam ist sang- und klanglos aus dem Turnier ausgeschieden. Und das schon im Viertelfinal. Eine Demütigung.
Raus, nur raus. Still öffneten die russischen Fans die Tür der Bolschoi-Halle, sie blickten nun direkt in den Sonnenuntergang über dem schwarzen Meer. Ein Bild voller Melancholie für ein Land im Schock. Für viele Einheimische machen ihre Olympischen Spiele jetzt keinen Sinn mehr: Russland ist aus dem olympischen Eishockeyturnier ausgeschieden, und es hat sich dabei geradezu blamiert.
Das 1:3 (1:2, 0:1, 0:0) im Viertelfinal gegen Finnland war mehr als nur eine Niederlage, es war eine Demontage und insofern der passende Schlusspunkt für eine miserable Gesamtvorstellung. Man muss sich ja schon noch mal vergegenwärtigen, dass hier nichts weniger passieren sollte als die Rückeroberung der Weltherrschaft über Puck und Kelle.
Putin hatte die Goldmedaille gefordert
Verbandspräsident und Torwartlegende Wjatscheslaw Tretjak hatte das Erbe der legendären sowjetischen Teams bemüht, Staatschef Wladimir Putin die Goldmedaille eingefordert. Zu sehen bekamen sie: einen wackligen Startsieg gegen Slowenien, eine – wenn auch unglückliche – Niederlage gegen die USA, vier torlose Drittel am Stück gegen die Slowakei und Norwegen sowie nun einen hilflosen Auftritt gegen eher unterforderte Skandinavier. Russland, die grosse, passionierte Eishockey-Nation, hat bei Heim-Olympia in vier Spielen nur sieben Treffer erzielt.
«Lassen Sie uns keine Wortspiele machen», sagte Trainer Sinetula Biljaletdinow beim anschliessenden Kreuzverhör: «Ich nenne das Abschneiden erfolglos, Sie können es nennen, wie Sie wollen». Es ist davon auszugehen, dass er heute in den Zeitungen alle Wörter findet, die das Russische nur hergibt, um eine Katastrophe zu beschreiben.
Das grösste Problem der Russen: Sie waren kein Kollektiv
Biljaletdinow, Typ graumelierter Gentleman, übernahm vor der Presse die Verantwortung für die Pleite, gab aber ansonsten eine ähnlich blasse Figur ab wie während der Partie, als bis auf den Wechsel der Torhüter kaum Coaching zu erkennen war. Wozu auch, denn offenbar haben ihm seine Stars sowieso nie zugehört. Verteidiger Anton Below erklärte: «Die Trainer haben uns gesagt, wir sollen nach System spielen. Aber jeder wollte der Retter sein und versuchte es für sich allein.»
Ausgerechnet beim Heimturnier haben die Russen ohne Identität gespielt, ihre grösste Tugend der glorreichen Jahre vermissen lassen: Sie waren kein Kollektiv. Sie kombinierten den Gegner nicht aus, sie gefährdeten ihn allenfalls durch Wucht und die Klasse einzelner Stars.
Die Finnen agierten cleverer – und waren technisch überlegen
Gegen Finnland fehlte es nicht an der Einstellung, die Spieler wirkten motiviert und aggressiv, Ilja Kowaltschuk verbrachte eine frühe Strafzeit im Stehen und bejubelte sein Führungstor Mitte des ersten Drittels wie einen Finalsieg. Aber Finesse gab es keine zu sehen. Verglichen mit den cleveren, eleganten, auch schlittschuhtechnisch überlegenen Finnen wirkten die Russen wie ein mittelmässiges NHL-Team, das es immer nur über die Physis versuchen kann.
Die wohl entscheidende Szene des Spiels war auch eine der typischsten: Beim Stand von 1:1 übersprintete Mikael Granlund, 21, die schwerfällige russische Abwehr und spitzelte den Puck zu Captain Teemu Selanne, 43, der bei seinen sechsten Olympischen Spielen eines seiner wichtigsten Tore erzielte.
Dass die kompakten Finnen kaum zu schlagen sind, wenn sie erst mal vorne liegen, weiss man im internationalen Eishockey nicht erst seit gestern. Und wenn es doch mal Probleme gab, stand da immer noch Tuukka Rask, der brillante Goalie von den Boston Bruins, der später auch das Erfolgsgeheimnis verriet: «Wir kennen uns gut, wir vertrauen uns, jeder spielt das System.»
Weshalb man in Sotschi auch problemlos wegzustecken scheint, dass mit Mikku Koivu, Valtteri Filppula und Aleksander Barkov gleich drei etatmässige Center verletzt fehlen. «Egal, wer hier ist, Finnland spielt immer wie Finnland», sagte Olli Jokinen.
Das russische Publikum pfiff die eigene Mannschaft aus
Der Verteidiger berichtete auch, dass es «im letzten Drittel nie Panik bei uns gab», und viel mehr muss man über die russische Schlussoffensive dann auch gar nicht wissen. Ausser vielleicht, dass sie in den letzten Minuten schon von Pfiffen des eigenen Publikums begleitet wurde, dass irgendwann selbst das Wechseln der Reihen nicht mehr richtig funktionierte und dass die schwächste Figur von allen dabei Alexander Owetschkin abgab, der sich mehrmals leicht den Puck abluchsen liess. «Zar Alex» taperte am Ende nur noch über das Eis wie ein müder russischer Bär.
«Es ist scheisse, was soll ich sagen», erklärte Owetschkin, dann machte er sich davon. Für die Werbewirtschaft war der beste Torschütze der NHL-Saison das Gesicht der Spiele, bei Coach Biljaletdinow reichte es jedoch nur für die zweite Angriffsreihe.
Eine Schmach, an die man sich noch lange erinnern wird
Auch dem Superstar von den Washington Capitals war das Bemühen nicht abzusprechen. Aber er droht wie schon nach dem Viertelfinal-Aus 2010 in Vancouver zum prominentesten Symbol für das gescheiterte Teambuilding zwischen NHL-Cracks und den Profis der russischen KHL zu werden. Egoismuskritiker Below kommt nicht umsonst eher aus der heimischen Linie; er wechselte erst zu Saisonbeginn nach Amerika.
Während die Finnen nun im Halbfinal auf Nachbar Schweden treffen, werden die russischen Spieler für immer mit der Schmach leben müssen, «den Hoffnungen unseres Landes nicht gerecht geworden zu sein», wie es Kapitän Pavel Datsyuk ausdrückte. Und Sinetula Biljaletdinow damit, der Trainer bei diesen verlorenen Spielen gewesen zu sein.
Ob er nach dem Ausscheiden noch in Sotschi bleibe, er habe jetzt ja Zeit, wurde er am Schluss gefragt. «Nein», antwortete er, «ich reise wohl besser ab.»