Die hässlichen olympischen Wurzeln

Weltfrieden, olympischer Geist? Wunderbare Slogans, die mit der Realität wenig bis nichts zu tun haben. Die Olympische Bewegung hat viele Berührungspunkte mit dem Faschismus – und sie hatte nie Probleme, die Spiele an autokratische Staaten zu vergeben.

Baron Pierre de Coubertin founder of the modern-day Olmpic Games, holds a speech at the conference of the Swiss Olympic Committee ahead of the Olympic Games in Garmisch and Berlin, pictured in January 1936. (KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/ES.)Baron Pierre d (Bild: Keystone)

Weltfrieden, olympischer Geist? Wunderbare Slogans, die mit der Realität wenig bis nichts zu tun haben. Die Olympische Bewegung hat viele Berührungspunkte mit dem Faschismus – und sie hatte nie Probleme, die Spiele an autokratische Staaten zu vergeben.

Als ich als Fussballprofi mit dem FC Basel in Lausanne war und im Olympischen Park neben der Büste von Pierre de Coubertin stand, hatte ich keine Ahnung, wer dieser Mann war. Ich wusste zwar, dass er als Begründer der modernen Olympischen Spiele gilt, damit war aber mein Wissen schon erschöpft.

Professionell Sport zu betreiben bedeutet nicht, sich für die Geschichte des Sports und seine politischen Einflüsse zu interessieren. Sportler geben sich je länger, je mehr damit zufrieden, was ihnen als vermeintliche Grundfesten des Sports verkauft wird. Im konkreten Fall ist das der viel zitierte olympische Geist. Der aber ist in Tat und Wahrheit nicht viel mehr als eine Illusion.

Die Wahl des neuen Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) ist eine gute Gelegenheit, die Genese und den Geist der Olympischen Bewegung von ihrer Gründung an nachzuzeichnen.

Die erste Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist: Warum weiss der durchschnittliche Sportfan nichts von den Grundfesten, auf ­denen der globalisierte olympische Sport aufgebaut ist? Warum ist der breiten Öffentlichkeit so wenig über den Gründer der modernen Olympischen Spiele bekannt?

In Wahrheit sind die neo-olympische Idee von Baron Pierre de Coubertin, das berühmte Motto «Mitmachen ist alles», aber auch die pazifistische Mission der Olympischen Spiele nur romantisierende Slogans, die zu strategischen Zwecken missbraucht werden. Mit der Wirklichkeit haben diese Schlagwörter wenig bis nichts zu tun.

Eine zivilisatorische Mission

De Coubertin war zunächst Pädagoge, beeindruckt von den britischen Schulen und ihrer Sportpädagogik. Sie formte auf neospartanische Art «starke Charaktere», die sich ihrer Rolle als Anführer in der damaligen imperialistischen Politik bewusst waren. Der Sport war für de Coubertin auf natio­­­naler Ebene ein Mittel, um die Jugend für die Anforderungen des Kolonialismus vorzubereiten, dessen glühender Anhänger er war.

Wenn de Coubertin die Olympischen Spiele als Beitrag zum internationalen Frieden sah, dann aus der Sicht des Westeuropäers, der klar unterschied zwischen den westlichen, sogenannt entwickelten Nationen und den seiner Meinung nach «primitiven Kulturen» der kolonialisierten Völker. Die Olympischen Spiele waren – wie der Kolonialismus – für ihn ein Mittel der zivilisatorischen Mission, die die westlichen Werte in die Welt trug.

Krieg als «vornehmster Sport»

Nicht anders liegen die Fakten bei Carl Diem, einem der bedeutendsten deutschen Pädagogen und Sportfunktionäre, ein grosser Anhänger der olympischen Idee. Obwohl diese eine «pazifistische» sein sollte, blieb Diem in Erinnerung mit Aussagen wie: «Der Krieg ist der vornehmste und ursprünglichste Sport», «der Sport par excellence»; der Sport sei der «Büchsenspanner» des Soldaten. Während des Zweiten Weltkriegs, als die Niederlage des Dritten Reichs bereits absehbar war, ergänzte Diem den Aufruf von Adolf Hitler zum «Endkampf für Führer, Volk und Vaterland» mit den Worten «in der Not, Opfer Tod».

Diem propagierte eine Idee, die im Kern eine nationalsozialistische ist. Hitler sah den Sport als Truppenübungsplatz, der die Deutschen stählen und militärisch drillen sollte. Dem Sportministerium wurde das Ziel vorgegeben, «einen neuen Menschen» und «schöne Körper von Millionen von Ariern» zu schaffen.

Sport darf nicht als eigenständiges Phänomen betrachtet werden. Er diente und dient immer politischen Zielen und ist geprägt vom Geist der Zeit. Ein älteres Beispiel für die In­strumentalisierung des Sportes lässt sich bereits im 19. Jahrhundert beim Turnen beobachten. Friedrich Jahn («Turnvater Jahn») sah das Turnen als Hilfe bei der Militarisierung der ­Jugend, die den neuen deutschen Nationalismus verteidigen sollte.

Hitler erkannte das Potenzial der Spiele

Es ist nur wenigen bekannt, dass de Coubertin – der nicht nur Diem, sondern auch Hitler grosse Sympathie und Wertschätzung entgegenbrachte und ebendiese auch genoss – sein schriftliches Vermächtnis den Nazis überliess. Er vertraute ihnen auf diesem Weg die Wahrung der olympischen Idee an, woraus letztlich das Deutsche Olympische Institut in Berlin entstand.

Hitler, der den Olympischen ­Spielen zu Beginn skeptisch gegenübergestanden war, erkannte ihr ­Propagandapotenzial und wollte sie im Kern nazifizieren: Es gab sogar den Plan, die Olympischen Spiele alle vier Jahre in Deutschland auszurichten. Carl Diem, der ein Gefühl für den ideologischen Wert der Spiele hatte, sagte im Hinblick auf deren Zukunft: «Mehr denn je bin ich überzeugt, dass sie Weltspiele bleiben sollten, weil die Idee dieses Krieges eine Neuordnung ist, in der alle Völker ­dieser Welt glücklich sein werden …»

Graf Henri de Baillet-Latour, Vorkriegspräsident des IOC und überführter Judenhasser, hatte zusammen mit Avery Brundage, dem Präsidenten des Olympischen Komitees der USA, nicht nur die antifaschistischen Boykottaufrufe vor den Spielen 1936 ignoriert. Die beiden unterstützten auch die Durchführung der Spiele, obwohl die Nürnberger Rassengesetze bereits eingeführt waren und die Verfolgung der Juden begonnen hatte.

Der alte Freund aus der SA wird freigepresst

Nicht weniger spannend werden die Geschichte und der Charakter der Olympischen Bewegung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Brundage, dessen antisemitische Haltung dokumentiert ist, setzte sich als einflussreichste Figur der Olympischen Bewegung gemeinsam mit dem damaligen Präsidenten des IOC, Siegfried Edström, für die Freilassung von Karl Ferdinand Ritter von Halt aus sowjetischer Gefangenschaft ein.

Von Halt war SA-Gruppenführer und SS-Unterstützer, aber eben auch ein alter Freund der beiden Funktionäre aus der Vorkriegszeit. Es klingt unglaublich, aber von Halt wurde 1951 sogar Präsident des westdeutschen Olympischen Komitees.

Brundage presste von Halt praktisch aus sowjetischer Haft frei: Eine Grundbedingung der Aufnahme der Sowjetunion ins IOC war seine Freilassung. Brundages Ansage: «Ohne Freilassung von Halts keine IOC-Mitgliedschaft.» Auf gleiche Weise setzte sich Brundage für Carl Diem ein.

Reinwaschung nach dem Krieg

Kurz nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 und der damit verbundenen Entstehung des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland (NOK) wurde niemand anders als Carl Diem dessen Generalsekretär. Und um die Ironie zu vervollkommnen, wurde Präsident des NOK Adolf Friedrich Mecklenburg-Schwerin – noch ein alter Nazi-Sympathisant.

Mehrmals entstand – vor allem in Deutschland – das Bedürfnis, die Fakten aufzurollen. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) finanzierte eine Biografie, die Diem ­äusserst kritisch betrachtete, deutete ihre Ergebnisse aber noch beim Erscheinen um. Der Beirat des DOSB, der das vierbändige Werk begleitete, bekräftigte trotz gegenläufiger Darstellungen in der Biografie, Diem sei kein «Nationalsozialist, Rassist und Antisemit» gewesen.

Der Beirat hatte augenscheinlich die Aufgabe, das politische Wirken einer der bedeutendsten Figuren des deutschen Sports und der pädagogischen Lehre reinzuwaschen, damit ein Schlussstrich gezogen werden konnte und Sporthallen und Strassen weiter seinen Namen tragen durften.

Lauter faschistische Schmutzflecke

Dasselbe gilt für de Coubertin, Brundage oder Juan Antonio Samaranch, den Vorgänger des am Dienstag abgetretenen IOC-Präsidenten Jacques Rogge: Ihre Biografien sind voller faschistischer Schmutzflecke.

So unerträglich es ist: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden ehemalige Nazis in Westeuropa aus pragmatischen Gründen in Administration, Politik und Verwaltung integriert. Aber warum mussten ehemalige ­Nazis und Sympathisanten auch für die Zwecke einer globalen «Sport»-Organisation rehabilitiert werden?

Der Grund liegt auf der Hand: Innerhalb von Sportinstitutionen wird in der Tat auf die moralische und ideologische Eignung geachtet. Und der Sport als solches hat im Kern immer eine politische Dimension.

Eine Ehrung für den Diktator

Noch nie hatte das IOC Mühe damit, die Spiele an totalitäre Regimes zu vergeben, die grundlegendste Menschenrechte miss­achteten. Samaranch – Faschist und unter Spaniens Diktator Franco Sportminister – war deshalb immer ein gern gesehener Gast im Ostblock wie im Westen. Er tauschte Medaillen und Auszeichnungen mit Staatsoberhäuptern wie Todor Schiwkow oder Nicolae Ceaușescu, den Diktatoren Bulgariens und ­Rumäniens.

Als Seoul 1981 den ­Zuschlag erhielt, war dort mit Chun Doo-hwan ein Putschist an der Macht. Und seit dem Gwangju-Massaker, bei dem bis zu 2000 Menschen bei Demonstrationen umgebracht worden waren, war erst ein Jahr vergangen.

Diese Entscheide wurden immer mit derselben Entschuldigung gefasst: Die Olympischen Spiele seien neutral und apolitisch. Diesen Geist stellte das IOC gerne 1968 zur Schau, als die beiden Afro-Amerikaner John Carlos und Tommie Smith während der Siegerehrung die schwarzbehandschuhte Faust nach oben reckten – das Symbol der Black-Power-Bewegung, die sich gegen die Diskriminierung der dunkelhäutigen US-Amerikaner wehrte.

Der Hitlergruss war okay, die Black-Power-Faust nicht

Ein Protest, der in seinem Kern ein menschlicher war, vom IOC aber als unhaltbare politische Aktion dargestellt wurde. Die beiden Athleten wurden auf Druck des damaligen IOC-Präsidenten Brundage von den Olympischen Spielen ausgeschlossen. Es war derselbe Brundage, der 1936 nichts dagegen hatte, dass die Nazis die Spiele für ihre politische Propaganda nutzten – und der den Hitler-Gruss während der Spiele als nationaler Gruss in dieser Zeit bezeichnete.

Die Olympischen Spiele sind auch heute ein Produkt des Zeitgeistes: Sie sind universell und konform zu allen politischen Systemen. Die Spiele haben sich den Regeln der realen Geopolitik angepasst und überwinden scheinbar alle politischen Meinungsverschiedenheiten und Boykotte.

Der Verdienst von Samaranch, als letztem Vertreter der Aristokratie und des Faschismus an der Spitze des IOC, ist die Kommerzialisierung und Professionalisierung der Olympischen Spiele, was im Kern dem Verrat an den «Gründervätern» und ihrer Ursprungs­idee gleichkommt.

Kommerz und Mythos

Heute erschliessen multinationale Unternehmen mit den Spielen als globalem Event neue Märkte, während die Ausrichter die Gelegenheit erhalten, ihre Macht zu demonstrieren. Sie unterwerfen ihre Bevölkerung dadurch den Regeln der Globalisierung und versuchen gleichzeitig, sie durch den Sport zu entpolitisieren.

Das neue IOC ist folglich den Anforderungen der Zeit angepasst: Seine Vertreter müssen in erster Linie fähige Politiker und Manager sein. Mit dem Gefühl für die moderne olympische Mission, die vor allem ­darin besteht, immer mehr Geld zu verdienen, und für den Erhalt des ­Mythos des angeblich neutralen und universellen Sports.

Ein kritischer Blick auf die Geschichte der Olympischen Bewegung zeigt aber, dass die Angehörigen der Spitze des IOC bis vor Jacques Rogge immer aktive Mitglieder oder zumindest Sympathisanten faschistischer Systeme waren.

Der Sportkonsument soll dummgehalten bleiben

Diese Organisation bildet die Grundmauern des globalen Sports, und es ist unglaublich, dass es keine grundlegende Analyse und Bewertung ihrer Geschichte gibt. Die akademischen Untersuchungen dazu geschehen praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Die Sportkonsumenten müssen eine dummgehaltene, begeisterte Masse bleiben, die in den TV starrt und keine Ahnung vom Charakter der Sportpolitik oder ihrer Geschichte hat. Das Wissen um den wirklichen Charakter des Sports würde nur die Illusion des friedlichen Wettstreits der Nationen zerstören.

Der Autor stützt sich auf Recherchen des serbischen Autors Ljubodrag Simonovic.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 13.09.13

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