Eine Zwischenbilanz vor den WM-Viertelfinals lautet: Der Vorsprung der grossen Nationen schmilzt weiter. Aber so entscheidend der Kollektivgedanke und die leidenschaftliche gemeinsame Arbeit gegen den Ball geworden ist, und so ausgeglichen das Leistungsniveau der Teams sich in der Breite entwickelt hat, so wichtig sind auf der anderen Seite die überragenden Einzelkönner.
Moderner Fussball ist ganz schön altmodisch. Zumindest wenn man darauf schaut, was für eine grosse Rolle der gute alte Mannschaftsgeist wieder spielt an der WM in Brasilien. Gut, man sagt jetzt zeitgemässer eher: Teamspirit. Oder spricht noch zeitgemässer von flachen Hierarchien im Mannschaftsgefüge. Was aber immer nur auf das Gleiche hinausläuft: Man musste sich reinhauen als Team, wenn es weitergehen sollte an dieser WM.
Oft sogar reinhauen, bis es weh tat. Schon die Achtelfinals mit fünf Spielen, die in die Verlängerung gingen, kamen einem da ein bisschen wie Endspiele vor, was sie faktisch für einen der Beteiligten natürlich auch immer sind. Trotzdem hat man wohl selten schon in den Gruppenspielen und der anschliessenden Runde der letzten Sechzehn so viele Krämpfe und so viele Männer weinen gesehen wie jetzt in Brasilien.
Das hatte natürlich zum Teil mit den klimatischen Verhältnissen zu tun. Aber eine ganze Menge auch damit, dass die so genannten Kleinen im Turnier der 32 zur Weltmeisterschaft Qualifizierten offenbar aussterben. Zumindest hat sich die Schere zwischen oben und unten weiter geschlossen.
Wundern kann einen das nicht wirklich. Schliesslich verdienen inzwischen fast alle, die sich in Brasilien zu den Weltspielen treffen, in Europas führenden Fussballligen ihr Geld. In den globalen Ländervergleichen hat sich das in der signifikanten Erhöhung der Leistungsdichte niedergeschlagen.
So spielen die Deutschen bisher mit vier Innenverteidigern in der Abwehrkette. Das soll einerseits der Defensive mehr Stabilität verleihen. Andererseits will man damit angesichts hoher Luftfeuchtigkeit und Temperaturen auch bewusst die Kräfte sparen, die offensivere Aussenverteidiger auf ihren langen Läufen vor und zurück der Aussenlinie verbrauchen würden. Klar, dass das nun auf Kosten früherer deutscher Offensivspektakel geht.
Wie es natürlich ein Stück weit auf Kosten des traditionellen Kurzpasszaubers geht, dass der holländischen Coach Louis van Gaal das fussball-kulturell tief verankerte 4-3-3-System der Niederlande zugunsten einer defensiveren Spielordnung mit nur zwei Stürmern geopfert hat. In der Heimat musste van Gaal dafür jede Meng Kritik einstecken. Jetzt gibt ihm der Erfolg Recht, auch wenn Holland gegen Mexikaner, die sich müde gespielt hatten, nur in letzter Minute und mit dem eingewechselten dritten Stürmer Huntelaar die rettenden Tore erzielte.
Dass den Einwechselspielern unter den Rahmenbedingungen der brasilianischen WM eine erhöhte Bedeutung zukommt, hatte übrigens der deutsche Bundestrainer Joachim Löw schon vor dem Turnier prophezeit. 28 Jokertore haben bisher diese These eindrucksvoll bestätigt – 23 Treffer von Einwechselspielern im Verlauf der gesamten WM 2006 sind die bisherige Rekordmarke.
Den Umschalt- und Überfallfussball entschleunigt
Wie die Deutschen hat auch Argentinien seinen traditionellen Umschalt- und Überfall-Fussball in Brasilien entschleunigt. Das erkennt man auch daran, dass Argentinien durchaus überraschend die Mannschaft mit der höchsten Ballbesitzquote des Turniers ist. Ausserdem ist Argentinien das Team, das Messi hat.
Bei aller Einzigartigkeit steht der begnadete Fummler aber auch als Unterschiedmacher nur für ein weiteres Phänomen der WM: So entscheidend der Kollektivgedanke und die leidenschaftliche gemeinsame Arbeit gegen den Ball geworden ist, und so ausgeglichen das Leistungsniveau der Teams sich in der Breite entwickelt hat, so wichtig sind auf der anderen Seite die überragenden Einzelkönner.
Ob Robben bei Holland, James Rodrigues bei Kolumbien, Neymar bei Brasilien, Benzema bei Frankreich – je mehr sich Mannschaften auf Augenhöhe begegnen, umso eher können diese Hochbegabten wie Messi gegen die Schweiz mit einer spektakulären Aktion Spiele entscheiden.
Initiative und Leidenschaft setzen sich durch
Man sieht: Die WM hatte bisher schon eine ganze Menge zu bieten. Auch wenn sich noch kein Team als grosser Favorit hervortun konnte – und ein bisschen gerade deshalb. Aber auch ohne Fussball auf allerhöchstem Niveau haben sich die durchgesetzt haben, die die Initiative ergriffen, nach fussballerischen Lösungen gesucht und leidenschaftlich zusammengearbeitet haben. Nach der idealen Balance zwischen schnellem Umschalt- und Ballbesitzfussball wird noch gefahndet wie auch nach der zwischen defensiver Stabilität bei gleichzeitiger offensiver Qualität.
Aber es ist eine spannende und vielversprechende Suche. Sowohl was die Endphase des Turniers angeht als auch die Zukunft des Spiels – und nicht zuletzt weil die fussballerischen Schwellenländer so weit aufgeholt haben. Kolumbien und Belgien sind ernstzunehmende Kandidaten für einen Überraschungscoup bei der Titelvergabe.
Und die Schweizer können nicht nur wie Chile, Mexiko oder Algerien erhobenen Hauptes auf die WM zurückschauen. Mit ihrem Reservoir an jungen, talentierten Spielern haben sie auch die Perspektive, direkten Anschluss an die Weltspitze zu finden – wer auch immer in gut einer Woche dort stehen wird.