Die lammfrommen Wadenbeisser

Früher war der deutsche Verteidiger ein Inbegriff für nicht nur gesunde Zweikampfhärte. Heute hauen die Deutschen ihren Gegnern kaum mehr auf die Socken – und der Bundestrainer ist auch noch stolz darauf. Auch im Viertelfinal gegen Griechenland (20.45 Uhr) wollen die Deutschen spielen und nicht kämpfen.

Der Holländer Robin van Persie ist von den Deutschen Bastian Schweinsteiger, Mats Hummels und Holger Badstuber (v. l. n. r.) umzingelt an der Euro 2012. (Bild: Reuters/YVES HERMAN)

Früher war der deutsche Verteidiger ein Inbegriff für nicht nur gesunde Zweikampfhärte. Heute hauen die Deutschen ihren Gegnern kaum mehr auf die Socken – und der Bundestrainer ist auch noch stolz darauf. Auch im Viertelfinal gegen Griechenland (20.45 Uhr) wollen die Deutschen spielen und nicht kämpfen.

Waren das noch Zeiten, als deutsche Verteidiger allerorts Angst und Schrecken verbreiteten. Bei manchem Gegenspieler soll ja allein der Gedanke an ein Treffen mit einem Manndecker teutonischer Prägung bereits blaue Flecken verursacht haben. Nicht von ungefähr trug Berti Vogts den Beinamen Terrier.

Solche Kosenamen sind im deutschen Nationalteam anno 2012 längst nicht mehr zu finden. Aus den berüchtigten Wadenbeissern von einst sind bekennende Musterknaben geworden, die Terrier verhalten sich heute lammfromm. Ganz zur Freude ihres Hirten Joachim Löw, der genau diese faire und brave Verhaltensweise predigt.

Kein einziges Foul gegen Holland

Mit grosser Genugtuung hat der deutsche Bundestrainer daher die Statistiken des 2:1-Sieges gegen Holland studiert. Eine Rubrik, die von vielen Experten oft vernachlässigt wird, erregte dabei seine Aufmerksamkeit – die Foulstatistik. Die deutschen Abwehrspieler hatten im Match gegen die Niederlande in 90 Minuten kein einziges Foul begangen.

Daten und Fakten wie diese erfüllen Löw mit Stolz. Er sieht sich darin in seiner Mission bestätigt, dem deutschen Fussball eine neue, moderne Identität zu verschaffen. Und so nebenbei auch ein besseres Image. 2006 war der Schwarzwälder ja mit einer mutigen Ansage als Bundestrainer angetreten: Die Zeit des Rumpelfussballs müsse endlich vorbei sein, forderte Löw. «Denn seien wir einmal ehrlich: Diese Spielweise hat manchmal niemanden vom Sitz gerissen.»

Hohe Bälle sind für den Notfall reserviert

Dass sechs Jahre nach seinem Amtsantritt die deutschen Verteidiger selbst gegen die starke Offensiv-Fraktion der Holländer ohne Foul auskommen, mag zwar vielleicht gegen Robben und Kollegen sprechen, belegt aber die Entwicklung, die das deutsche Team unter Löw sukzessive durchgemacht hat. «Keine dummen Fouls» lautet nämlich ein Credo des 52-Jährigen, ein anderer Stehsatz betrifft den Spielstil: «Ich will hohe Bälle nur im äussersten Notfall sehen.»

Hohe, weite Bälle, so die Ansicht des Bundestrainers, seien in erster Linie Zeichen der Ideen- und Hilflosigkeit einer Mannschaft. Ein präzises Passspiel à la Spanien ist da schon eher nach Löws Geschmack. Je schneller, umso besser und erfolgreicher.

Auch hier bestätigen die Zahlen aus der DFB-Datenbank die rasanten Fortschritte: Noch vor zehn Jahren hatte ein deutscher Teamspieler bei jedem Ballkontakt den Ball im Schnitt zweieinhalb Sekunden am Fuss. «Heute haben wir in unseren guten Spielen schon Ballkontaktzeiten von 0,9 Sekunden», berichtet der Bundestrainer voller Stolz.

Eine radikale Frischzellenkur

Nicht alle kommen bei diesem rasanten Tempo, das der Chefcoach eingeschlagen hat, mit. Es ist kein Zufall, dass Löw in seiner Ära das Nationalteam einer radikalen Frischzellenkur unterzogen hat. Mit Methode, Kalkül und ohne grosse Sentimentalitäten hat der 52-Jährige in den letzten Jahren die Haudegen und verdienstvollen Alt-Internationalen aussortiert. Ballack, Frings, Kuranyi – sie alle passen nicht in sein Schema und wurden Schritt für Schritt durch junge, lernwillige und vor allem auch überdisziplinierte Spieler ersetzt.

Heute stellt Deutschland nicht nur die mit Abstand jüngste Mannschaft des Turniers, sie erinnert in ihrem biederen, braven und uniformierten Auftreten fast ein wenig an einen Knabenchor. Dass der vergebene Verteidiger Jérôme Boateng unmittelbar vor dem Turnier bei einem erlaubten Freigang mit einer fremden Frau gesichtet wurde, wurde in dieser an Affären so armen Ära deshalb schon zum Mega-Skandal. Über solche Ausrutscherchen hätten sie zu Zeiten eines Kaisers oder eines Lothar Matthäus wohl nur milde gelächelt.

Der Angriffsfussball hat seinen Preis

Der System- und Imagewandel hat freilich auch seinen Preis. Mit ihrem attraktiven Angriffsfussball und dem Hurra-Stil hat die deutsche Nationalmannschaft in den letzten Jahren nicht nur viele Sympathien gewonnen, sondern auch Respekt bei den Konkurrenten.

Die greifen mittlerweile, wenn es gegen die Deutschen geht, zu alten deutschen Tugenden. Ganz zum Leidwesen des Fussballästheten Löw. «Gegen uns», beklagt sich Löw vor dem Viertelfinal gegen Griechenland, «gegen uns stehen alle Gegner nur mehr hinten drinnen.»

Foulstatistik der deutschen Abwehrspieler vor dem Viertelfinal gegen Griechenland

Holger Badstuber: 2 Fouls/270 Einsatzminuten
Mats Hummels: 0 Fouls/270 Einsatzminuten
Philipp Lahm: 1 Foul/270 Einsatzminuten
Jérôme Boateng: 1 Foul/180 Einsatzminuten
Lars Bender: 1 Foul/90 Einsatzminuten

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