Seit 1984, seit die Briten Jayne Torvill und Christopher Dean einen Mythos geschaffen haben, ist der Boléro von Maurice Ravel für Spitzenpaare im Eiskunstlauf ein Tabu. Doch an den Weltmeisterschaften in Calgary wagen sich gleich mehrere Eiskunstläufer an eine Neu-Interpretation.
Wenn Ingo Steuer auf den «Boléro» der Sportgeschichte angesprochen wird, hebt er sogleich abwehrend die Hände. «Bitte nicht mit Torvill/Dean vergleichen», sagt er dann, «deren Boléro ist unantastbar.»
Was der innovative Paarlauftrainer Steuer mit seinem deutschen Weltmeisterpaar Aljona Savchenko und Robin Szolkowy in diesem Winter gesucht und gefunden hat, war ein etwas anderer «Bolero». Nicht in der Originalversion des französischen Komponisten Maurice Ravel aus dem Jahr 1928, sondern in einer Flamenco-Version. «Wir wollen damit eine eigene Geschichte erzählen», hebt der Paarlaufweltmeister von 1997 hervor, «es ist eine schöne Herausforderung.»
Fünf Stunden hinkt London, Kanada, der Austragungsort der Eiskunstlauf-WM 2013, unserer Zeitzone hinterher. Eurosport überträgt die Wettkämpfe live. Als einzige Schweizerin startet die 17-jährige Tina Stürzinger bei den Frauen.
Programm (Zeiten in MEZ):
Mittwoch: Paare, Kurzprogramm (16 Uhr).
Männer Kurzprogramm (20:45).
Donnerstag: Frauen, Kurzprogramm (15:30).
Eistanz, Kurzprogramm (22:15).
Freitag: Paare, Kür (16:45).
Männer, Kür (22:45).
Samstag: Eistanz, Kür (19:30).
Sonntag: Frauen, Kür (00:00).
Für das in den vergangenen Jahren beste Eispaar weit und breit ist diese Spurensuche zu einer kniffligen Aufgabe geworden: Sich einerseits lösen zu wollen von der Erinnerung an eine Legende, zu der die britischen Eistanz-Majestäten Jayne Torvill und Christopher Dean bei ihrem goldenen Karrieremoment während der Olympischen Winterspiele 1984 in Sarajevo wurden, als sie den klassischen «Boléro» in ihrer genialen Übersetzung in ein Sportkunstwerk verwandelten. Und andererseits eigene Massstäbe in einer verwandten Disziplin mit einer etwas flotteren «Boléro»-Variante anzustreben.
Diese Gratwanderung auf Kufen, die nach Torvill/Dean noch kein Spitzenpaar des Eiskunstlaufs aus Respekt vor einem Monument gewagt hat, ist Savchenko/Szolkowy im Januar bei der Europameisterschaft in Zagreb nur in Massen gelungen. Weniger, weil Aljona Savchenko beim Dreifachsalchow stürzte und die Chemnitzer Kombination am Ende nur auf Platz zwei hinter den Russen Wolossoschar/Trankow landete.
Das gabs nur einmal, das kam nie wieder
Eher, weil der «Boléro» der sächsischen Figurenzeichner und Kufenartisten dann doch immer wieder Assoziationen an 1984 weckte: an das unübertreffliche Meisterstück von Torvill/Dean, das die vollkommen hingerissenen neun Preisrichter mit dem damals noch gültigen Nonplusultra bewerteten: dreimal die Höchstnote 6,0 für die sportliche Darbietung, alle Neune mit der 6,0 für den künstlerischen Wert. Das gabs nur einmal, das kam nie wieder.
In diesem Winter aber haben sich nicht nur Savchenko/Szolkowy, die an diesem Mittwoch bei der WM im kanadischen London in der Provinz Ontario Teil eines ihrer Mission Titelverteidigung mit dem Kurzprogramm in Angriff nehmen, herangetraut. Auch die italienische Weltmeisterin Carolina Kostner versucht sich am hypnotischen Ballettstück.
Die 26 Jahre alte Italienerin habe sich schon in der vergangenen Saison beim Training von dem spanischen Tanz im Dreivierteltakt «inspirieren lassen», erzählt ihr deutscher Trainer Michael Huth. Und er habe ihr wie auch die kanadische Kostner-Choreografin Lori Nicol dazu geraten, ihre eigene Phantasie in einer «Boléro»-Kür auszuleben. «Das wäre eine Herausforderung», hat Huth der fünfmaligen Europameisterin damals gesagt, «du besitzt dazu die Klasse.»
«Lehn’ dich mal über den Balkonrand hinaus»
Die mit knapp 1,70 Metern längste aller grossen Eiskunstläuferinnen ist dazu die sensibelste und manchmal auch scheueste Wettkämpferin ihrer Szene. «Der Boléro war schon immer ein Traum von mir», sagt Carolina Kostner, «ich habe aber nicht daran gedacht, dass ich diese Musik je nutzen würde. Jetzt bin ich froh, dass ich den Mut dazu aufgebracht habe, auch weil mir meine Choreografin auf dem Weg zu unserer Entscheidung gesagt hat, lehn‘ dich doch einfach mal ein Stück über den Balkonrand hinaus.»
Wer die Kür der Eisprinzipalin bei der EM in Zagreb sah, die sich in ihrer gestischen Ausgestaltung an der «Boléro»-Ballettinszenierung des französischen Tanzmeisters Maurice Béjart aus dem Jahr 1961 orientiert, war fasziniert ob der Hingabe der Läuferin an eine Komposition von hoher Intensität. «Zu sehen, dass man die Leute begeistern kann», sagte die Italienerin in Zagreb, «ist viel mehr wert als irgendeine Medaille. Klar fällt mir das Programm schwer, aber das spornt mich an und macht meine Leidenschaft aus.»
Das sportlich hochwertige und künstlerisch ansehnliche «Boléro»-Solo der Carolina Kostner ist ein Kraftakt wie auch für die Zweiergemeinschaft Savchenko/Szolkowy. «Der Energielevel und die Atmosphäre der Musik steigern sich ständig», sagt die Weltmeisterin, die ihren Titel am Samstag verteidigen und behalten will, «diesen Spannungsbogen auf dem Eis zu zeigen und durchzuhalten, ist nicht einfach.»
Den virtuellen Wettkampf können sie nicht gewinnen – WM Gold schon
Aljona Savchenko hat eine ähnliche Erfahrung gemacht: «Ich hätte mir diese Kür leichter vorgestellt. Man braucht Zeit, sich da reinzutasten.» Und weil die gebürtige Ukrainerin nicht so erpicht darauf scheint, sich einerseits am Original von Torvill/Dean messen zu lassen und sich andererseits davon abzugrenzen, freut sie sich schon auf das kommende Olympiajahr, «wenn wir wieder andere Programme laufen».
2013 schwingt der Vergleich mit dem «Boléro»-Meisterwerk der zwei Engländer aus Nottingham gewollt oder ungewollt immer mit. Diesen virtuellen Wettkampf können weder Savchenko/Szolkowy noch Carolina Kostner (schon deshalb, weil ihr der Partner fehlt) gewinnen. Zum Trost winkt ihnen wenigstens der Weltmeistertitel.