Es sind harte Zeiten für Traditionalisten des Länderfussballs. Der ersten Winter-WM 2022 in der Wüste wird vier Jahre später das erste Weltturnier mit 48 Mannschaften folgen. In Europa wiederum gibt es neuerdings die Europameisterschaft mit 24 Teams, ausserdem zur «Week of football» überhöhte Qualifikationsspiele, derweil um die Ecke schon die EasyJet-EM 2020 wartet, mit zwölf Ländern als Ausrichter. Dies als eine Folge der Erweiterung, weil so ein 24-Länder-Mammutturnier halt kaum noch einer alleine stemmen kann. Schon gar nicht, wenn der Bewerbungszeitraum mit einer Wirtschaftskrise zusammenfällt.
Seis drum. Am Mittwoch drängt schon die nächste Innovation auf die Bühne. Dann wird in Lausanne (12 Uhr) die Nations League ausgelost – nicht zu verwechseln mit der League of Nations aus Genf, dem Versuch internationaler Kooperation in der Zwischenkriegszeit.
Die Nations League also verspricht unter schickem Branding ein Ende der Langeweile internationaler Testspiele. Und man muss zugeben: Das könnte sogar funktionieren.
Die Schweiz in der stärksten Division
Statt ihre freien Termine selbst zu füllen, unterwerfen sich die 55 Uefa-Mitgliedsnationen künftig einem straffen Wettbewerbskalender. Die Qualifikationen zu WM oder EM werden erst im Jahr vor dem jeweiligen Turnier begonnen. Davor steigt im Zwei-Jahres-Rhythmus die zentral organisierte und vermarktete Nations League. In vier Divisionen mit je vier Gruppen spielen die Teilnehmer um den Titel (A-Liga) beziehungsweise Auf- und Abstieg. Grösster Vorzug: Die vier Ligen sind nach Stärke eingeteilt, alle Partien werden also auf Augenhöhe ausgetragen.
Am Beispiel der Schweiz sieht das so aus: Sie wird aus Topf zwei der ersten Division in eine von vier Dreiergruppen gelost. Zwischen September und November 2018 warten in Hin- und Rückspiel beispielsweise Deutschland oder Spanien (Topf eins), die Niederlande oder Kroatien (Topf drei). Der Gruppensieger qualifiziert sich für das Final Four im Juni 2019, der Dritte muss in die B-Liga.
DIE SETZLISTE FÜR DIE NATIONS LEAGUE
LIGA A (12 Teams, 4 Dreiergruppen)
Topf 1: Deutschland, Portugal, Belgien, Spanien – Topf 2: Frankreich, England, Schweiz, Italien – Topf 3: Polen, Island, Kroatien, Niederlande
LIGA B (12 Teams, 4 Dreiergruppen)
Topf 1: Österreich, Wales, Russland, Slowakei – Topf 2: Schweden, Ukraine, Irland, Bosnien-Herzegowina – Topf 3: Nordirland, Dänemark, Tschechien, Türkei
LIGA C (15 Teams, 3 Vierergruppen, 1 Dreiergruppe)
Topf 1: Ungarn, Rumänien, Schottland, Slowenien – Topf 2: Griechenland, Serbien, Albanien, Norwegen – Topf 3: Montenegro, Israel, Bulgarien, Finnland – Topf 4: Zypern, Estland, Litauen
LIGA D (16 Teams, 4 Vierergruppen)
Topf 1: Aserbaidschan, Mazedonien, Weißrussland, Georgien – Topf 2: Armenien, Lettland, Färöer, Luxemburg – Topf 3: Kasachstan, Moldau, Liechtenstein, Malta – Topf 4: Andorra, Kosovo, San Marino, Gibraltar
Die Einführung des Championats wurde 2014 einstimmig von den Uefa-Mitgliedern beschlossen. Sie war Teil der Reformagenda des Ex-Präsidenten Michel Platini und zeigt den Gestaltungswillen der Uefa im Bereich des Länderfussballs. Dort also, wo sie noch gestalten kann und nicht wie im Vereinsfussball den Wünschen der Megaklubs hinterher rennen muss, die mit der Abspaltung drohen, wie bei der ab nächsten Saison greifenden Finanz- und Teilnahmereform der Champions League.
Dass es auch mit der Nations League mehr Geld zu verdienen gibt, ist natürlich willkommen, soll aber nicht das Hauptmotiv der Erfindung gewesen sein, wie die Uefa beteuert: «Der entscheidende Motor war, dass Mitgliedsverbände, Trainer, Spieler und Fans in den internationalen Freundschaftsspielen keinen adäquaten sportlichen Wert sahen.»
Der Dachverband verspricht sich aus der Zentralvermarktung inklusive des neuen Wettbewerbformats angeblich rund zwei Milliarden Euro.
Der Charme von Testkicks mit etlichen Absagen und noch mehr Auswechslungen erschloss sich zuletzt tatsächlich nur noch hartgesottensten Freaks. Selbst im grossen und an sich besonders nationalelfbegeisterten Deutschland bekam die heimische Auswahl zuletzt das Stadion nicht mehr voll.
Noch mehr Titel, noch mehr Hype
Da zugleich die Zahl der Länderspieltermine und Freistellungsphasen insgesamt nicht zunimmt, hält sich die Kritik der Vereine bisher in Grenzen. Teilweise wird allerdings mal wieder Übersättigung befürchtet: noch ein Titel, noch mehr Hype. Für den Zuschauer hat die neue Ordnung jedoch auch den Vorteil, dass die Qualifikation für WM oder EM verdichtet und damit ihrerseits attraktiver wird.
Den nicht zuletzt als Stimmvolk geschätzten Kleinverbänden wird zudem ein Zückerchen hingeworfen. In jeder Division, also auch der schwächsten mit Moldawien, Luxemburg oder Gibraltar, wird künftig eine Art zusätzliche EM-Wildcard vergeben; um diese spielen gut zwei Monate vor Turnierbeginn die vier besten Teams jeder Division, die sich nicht bereits auf herkömmlichem Weg für die EM qualifiziert haben.
Auf- und Abstieg als Novum für Länderteams
Alles verstanden? Womöglich noch nicht. Aber bis zum ersten Spieltag im September ist ja noch ein bisschen Zeit, sich mit den Feinheiten des neuen Formats zu beschäftigen.
Was immer man von ihr hält – die Nations League bricht mit alten Schemen. Erstmals überhaupt kommt über Ländergrenzen hinaus ein System von Auf- und Abstieg zur Anwendung. Und obwohl die europäische Nations League noch nicht einmal in Gang gekommen ist, wird das Modell schon als globales Projekt weitergedacht.
Blaupause für Zukunftdebatte
Erweist sich das neue Turnier als Publikumserfolg, könnte es mittelfristig auch zur Blaupause für eine Zukunftsdebatte im Vereinsfussball werden. Warum sollte sich dort nicht nach ähnlichem Muster eine Europaliga organisieren lassen? Die Uefa-Verbände hätten dann selbst gerufen, was ihnen bisher als hässlicher Geist gilt.
Aber es gibt noch eine grössere Ironie: Vielleicht könnte sich der Fussball-Konsument eines Tages auch fragen, wozu es eigentlich eine zähe Endrunde mit 24 Mannschaften über einen ganzen Monat braucht, wenn die Europäer ihren Besten auch im schlanken Format mit einem kompakten Finalturnier ermitteln können – just so, wie ja bis einschliesslich 1976 die EM auch gespielt wurde.
Womöglich schliesst sich für die Traditionalisten also ein Kreis, womöglich kannibalisiert eine Neuerung die andere. Aber jetzt wird in Lausanne erst mal gelost – und die Trophäe enthüllt, um die es gehen soll, alle zwei Jahre in der Nations League.
Der sportliche und wirtschaftliche Vorteil für die Schweiz
Das Wehklagen über die Nations League dringt vor allem aus Deutschland durch. Clubfunktionäre fürchten eine zusätzliche Belastung ihres kickenden Personals, obgleich der neue Wettbewerb keine neuen Termine beansprucht, sondern in den jetzt schon bekannten, für Länderspiele reservierten Pausen des Ligabetriebs platziert wird.
Am prägnantesten bringt Karl-Heinz Rummenigge das Unbehagen auf den Punkt: «Wenn es keine Nations League geben würde, dann würde sie wohl auch niemand vermissen», sagt der Vorstandsvorsitzende des FC Bayern München. Der deutsche Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff gibt sich zwiegespalten: «Wir müssen schauen, dass wir es mit den Wettbewerben nicht übertreiben, auf der anderen Seite werden das interessante Spiele.»
Für einen kleineren Landesverband wie die Schweiz kann die Nations League vor allem Vorteile bringen. Neben den Qualifikationsspielen zu WM- und EM-Endrunden war es für den Schweizerischen Fussballverband (SFV) in jüngerer Vergangenheit schwierig, attraktive Gegner für die Freundschaftsspieltermine zu finden – weil die namhaften Nationen mit ihren Stars lieber unter sich blieben und ihre Testspiele teuer vermarkten konnten.
Neben dem wirtschaftlichen Aspekt gibt es auch einen sportlichen: «Länderspiele gegen plusminus gleich starke Gegner bringen uns auf andere Weise weiter als solche gegen Teams, die in den Uefa- und Fifa-Rankings deutlich tiefer angesiedelt sind», sagt Marco von Ah, der Kommunikationsleiter des SFV.
Offen für Optimierung des Modus
Die seit einigen Jahren wirksame Zentralvermarktung der WM- und EM-Qualifikationsspiele hat die Einnahmen des SFV bereits unabhängiger vom Ticketverkauf der Heimspiele gemacht. Die Nations League wird weitere Garantiebeträge in die Kasse des SFV bringen, der aktuell ein Budget von rund 70 Millionen Franken hat (inklusive der 9,5 Millionen Franken Fixsumme für die WM-Teilnahme 2018).
Wo die Heimspiele der Nations League stattfinden werden, lässt der SFV offen. «Wir wollen unseren Prinzipien treu bleiben und niemanden vorsätzlich aussperren», sagt von Ah. Auf der Hand liegt jedoch, dass Basel mit dem grössten Stadion der Schweiz für einen Top-Gegner erste Wahl ist und bleibt.
Was den nicht einfach zu durchschauenden Modus der Nations League anbelangt, hat Alex Miescher, der Generalsekretär des SFV, kürzlich gegenüber «Le Matin» eingeräumt: «Wir haben die bestmögliche Lösung angestrebt, werden aber aufgrund der Erfahrungen offen sein für Optimierungen.» Als Mitglied der Uefa-Wettbewerbskommission hält Miescher fest, dass das primäre Ziel gewesen sei, den Länderspielen neben den Qualifikationen einen Sinn zu geben.