Die Pessimisten können sich selbst überraschen

In der Ukraine üben sich die Veranstalter vor der Fussball-EM 2012 in vollmundigen Versprechungen. Co-Gastgeber Polen ist selbstkritischer – und besser vorbereitet.

A general view of the exterior of the National Stadium after the friendly soccer match between Sevilla FC and Legia Warszawa in Warsaw April 17, 2012. The opening match of the Euro 2012 between Poland and Greece will be played at the National Stadium in W (Bild: Kacper Pempel/Reuters)

In der Ukraine üben sich die Veranstalter vor der Fussball-EM 2012 in vollmundigen Versprechungen. Co-Gastgeber Polen ist selbstkritischer – und besser vorbereitet.

Mit einer gesunden Portion Skepsis hatten die Polen dem Eröffnungsspiel im neuen Warschauer Na­tionalstadion entgegengeblickt. Ein Verkehrschaos wurde im Minimum erwartet, eine lahmgelegte Stadt, der Aufmarsch von marodierenden Hooligans oder gleich der Einsturz des markantesten Neubaus der Stadt.

Und dann passierte Anfang März gar nichts davon. Das würde anderswo für einige Genugtuung sorgen. Den Polen aber erschien es als geradezu verdächtig, wie gut die Generalprobe für die Fussball-Europameisterschaft 2012 abgelaufen ist. Das ist Ausdruck einer merkwürdigen Form des Pessimismus, der in Polen in den unterschiedlichsten Schattierungen vorherrscht.

So richtig sicher, ob das Land einen Grossanlass wie die Euro stemmen kann, sind sich die Polen auch kurz vor dem Eröffnungsspiel vom 8. Juni nicht. Aber in die pessimistische Grundhaltung mischt sich langsam vorsichtige Begeisterung. Im Einkaufszentrum mit dem klingenden Namen «Goldene Terrassen» neben dem Warschauer Hauptbahnhof gehen Trikots des eigenen Na­tio­nalteams weg wie warme Semmeln.

Und auch wenn das Nationalstadion mit einem halben Jahr Verspätung eröffnet wurde, so thront es nun doch endlich fertig gebaut und unübersehbar als neues Wahrzeichen über der Stadt. Der höchste Punkt des 600-Millionen-Franken-Bauwerks liegt 81,5 Meter über dem Wasserspiegel der Weichsel. Die Warschauer nennen es zärtlich-spöttisch «Garnek», Kochtopf.

Auf Trümmern erbaut

Es ist ein historisch aufgeladener Ort, an dem das Eröffnungsspiel der Euro zwischen Polen und Griechenland stattfinden wird. Während des Warschauer Aufstands gegen die deutschen Besatzer im Sommer 1944 verharrte die sowjetische Armee an dieser Stelle. Und sie griff monatelang auch nicht ein, als die Nationalsozialisten die westlichen Teile Warschaus nach Niederschlagung des Aufstands systematisch dem Erdboden gleichmachten.

Wortwörtlich auf dem Schutt dieser Zerstörungswut entstand 1955 zum zehnten Jahrestags des kommunistischen Systems in Polen das Vorgängerstadion des heutigen Baus. Im «Stadion des zehnjährigen Jubiläums», wie es feierlich genannt wurde, gastierten nicht nur Sportler, sondern auch Politiker. Es war Instrument der pseudokommunistischen Propagandamaschine. Bei Massenereignissen liessen sich die Parteibonzen in der einzigen VIP-Loge des Stadions hochleben. Ironie der Geschichte, dass der letzte Grossanlass 1983 ausgerechnet im Sinne der katholisch geprägten Oppositionsbewegung war: der Besuch von Papst Johannes Paul II.

Vom Jahrmarkt zum Stadion

Auch in einem anderen Sinn hatte das alte Stadion Symbolcharakter für den Übergang vom Kommunismus zur Marktwirtschaft. Nachdem der real existierende Sozialismus 1989 begraben worden war, erfuhr der Bau einen zweiten Frühling. Das grosse Gebiet um die veraltete Arena wurde zu einem halblegalen Basar Namens «Jarmark Europa» mit einem riesigen Angebot aus meist so zweifelhafter Quelle, dass das geflügelte Wort existierte, im «Stadion» könne bestimmt auch der Bauplan einer russischen Atombombe gekauft werden.

Bis zum Eintritt in die Europäische Union 2004 war die Arena Warschaus grösstes Shoppingcenter. Erst danach wurde die Stadt von einer wirtschaftlichen und architektonischen Dynamik erfasst, die ihren Ausdruck in unzähligen Hochhäusern findet, die zwischen übrig gebliebenen Alt- und Plattenbauten emporwachsen.

Das investierte Kapital und der Wirtschaftsaufschwung mögen manche Gesellschaftsschicht erreicht haben, und Polen ist inzwischen die zwanziggrösste Volkswirtschaft der Welt und hat Belgien überholt. Doch an vielen Polen geht der Boom vorbei. Der durchschnittliche Monatslohn liegt bei knapp 3500 Złoty, das sind 1000 Franken. Und die Arbeitslosigkeit liegt laut dem statistischen Amt der Europäischen Union bei 10,2 Prozent.

Korrpution und Hooliganismus

Auch den Fussball hat der Aufschwung noch nicht erreicht. Von Korruptionsskandalen und Hooliganismus gebeutelt, mit mangelnder Qualität geschlagen, hat die Sportart in Polen einen schweren Stand. Das liegt einerseits an der starken Konkurrenz durch erfolgreiche Einzelsportler wie den Skispringer Adam Małysz, den Rennfahrer Robert Kubica, die Tennisspielerin Agnieszka Radwańska. Oder auch an den guten Leistungen der Nationalteams im Hand- und Volleyball.

Andererseits ist die sinkende Popularität des Fussballs hausgemacht. Viel zu lange wurde die Nachwuchsförderung vernachlässigt. Das Hooliganproblem hält viele friedliche Fans davon ab, sich in ein Stadion zu begeben. Und der nationale Fussballverband hinterlässt meist einen unprofessionellen Eindruck.

Doch es besteht Hoffnung auf Besserung. Nicht nur, weil das Trio Robert Lewandowski, Jakub Błaszczykowski und Łukasz Piszczek soeben mit Borussia Dortmund deutscher Meister geworden ist. Modernere Stadien sollen mehr Sicherheit bringen – und mehr und pflegeleichtere Zuschauer. Die Hoffnung lautet, dass ähnlich wie in England das gewaltbereite Fussball-publikum dank erhöhter Sicherheit in den Stadien und steigender Eintrittspreise gegen gesittete Anhänger aus der Mittelschicht ausgetauscht wird.

Alte Fan-Feindschaften

Ob dieser Plan aufgeht, muss jedoch bezweifelt werden. Mehr Erfolg könnten da Fan-Projekte nach deutschem Vorbild bringen, die zögerlich aufgebaut werden. Denn manche Fan-Feindschaften gründen tief.

Wie jene zwischen Wisła und Cracovia Krakau. Cracovia soll während der über 100-jährigen Besatzung durch Österreich-Ungarn als Club der Kollaborateure gegründet worden sein. In der Unterstützung des eigenen Vereins mischen sich so pseudo-nationale mit religiösen Komponenten. «Ich bin bereit, für Wisła mein Leben zu geben», sagte ein Hooligan von Wisła gegenüber der deutschen «Zeit» mit einigem Pathos, «das ist unser heiliger Krieg».

Für die Euro selbst könnten die Hooligans allerdings ein viel kleineres Problem darstellen als im Vorfeld befürchtet. Die meisten fühlen sich ihrem lokalen Verein verpflichtet, nicht der Nationalmannschaft. Ausser, es geht gegen England oder Deutschland. Aber diese beiden Nationen spielen aus glücklicher Fügung in der Ukraine – zumindest in der Gruppenphase.

Dennoch hat sich die polnische Polizei gewissenhaft auf mögliche Ausschreitungen vorbereitet. Schliesslich hoffen die Polen bei all der ihnen eigenen Skepsis, dass ihr Land dank der EM stärker als zuvor als funktionierender Teil Europas wahrgenommen wird.

Die ungebaute Autobahn

Alles wird trotzdem nicht reibungslos klappen. So wie der Bau einer neuen Autobahn zwischen Warschau und Berlin. Der Auftrag dafür war erst zu einem Dumpingpreis an die chinesische Firma Covec gegangen, die allerdings Mitte 2011 das Handtuch werfen musste. Anfang März hat nun die polnische Firma Dolnośląskie Surowce Skalne, die den Auftrag in der Folge teilweise übernommen hat, Insolvenz angemeldet.

Die Autobahn wird also nicht rechtzeitig fertig. Für alle anderen grösseren und kleineren Widrigkeiten, die während der Euro auftreten können, ist in Polen allerdings durch das dank historischer Herausforderungen stark entwickelte Talent zur Improvisation ein Kraut gewachsen. «Załatwiać» heisst das Zauberwort. Auf Deutsch: arrangieren, erledigen, beschaffen oder schlicht deichseln.

Ein Kochtopf für 600 Millionen Franken, etwas heisse Luft und grosse Sicherheitsvorkehrungen – Polen ist bereiter für die EM, als es viele Einwohner glauben. Das Nationalstadion in Warschau steht, die Plastikpokale sind aufgeblasen (vor dem Warschauer Kulturpalast) und die Sicherheitskräfte haben das Abseilen geübt. Fotos: Keystone (2), Reuters

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.04.12

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