Unai Emery ist nicht nur der erfolgreiche Trainer an der Seitenlinie des Sevilla FC. Der 44-jährige Baske ist auch eine bemerkenswerte Persönlichkeit: Emery überprüft seine Fussballer mit listigen Tricks, seine Videoanalysen dauern derart lange, dass den Spielern das Popcorn ausgehe. Und auf seiner Homepage, da lässt er die Fans die Aufstellung für das nächste Spiel erraten.
Die Aufstellung hat mal wieder keiner erraten. Natürlich nicht. Dass er beispielsweise den wochenlang unberücksichtigten Aussenverteidiger Diogo Figueiras als Rechtsaussen einsetzen würde oder Innenverteidiger Daniel Carriço im zentralen Mittelfeld – wer sollte darauf schon kommen? Beim Online-Spiel «El Once de Unai» wurde daher nach dem Ligaspiel in Getafe und wahrlich nicht zum ersten Mal der Jackpot aufgefüllt.
«Die Elf von Unai» lässt der Trainer des Sevilla FC auf seiner eigenen Homepage Woche für Woche ausspielen. Das Spiel könnte allerdings genauso gut Satire auf einen der erfolgreichsten Übungsleiter im europäischen Fussball sein. Unai Emery tüftelt so besessen am Fussball, an seinen Strategien und seinem Personal, dass ihm dabei oft kaum einer mehr folgen kann. Nicht nur beim genannten Tippspiel; auch unter den zehntausenden Trainern auf der Tribüne und vor dem Fernseher.
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Selbst für Emerys Standards sorgte das 1:1 in der Madrider Vorstadt allerdings für besonders viel Unverständnis. «Emery bewaffnet seine Kritiker», titelte am Montag das «Diario de Sevilla» über einen Trainer «im Zentrum des Wirbelsturms». Wo sonst als beim zuvor sieben Mal in Folge besiegten Getafe sollte Sevilla den ersten Auswärtssieg der Saison zustande bringen?, fragt die Presse.
Viele Ex-Profis sehen in der Trainerkarriere ja nur die zweitschönste Art, im Fussball zu arbeiten. Emery wusste sofort: Es ist die schönste.
Wie viel einfacher kann es noch werden als mit einem Führungstreffer zehn Minuten vor Schluss bei einem seit über 500 Minuten torlosen Gegner? Und immer wieder: Was sollte diese Aufstellung?
Natürlich steht Emery in Sevilla nicht ansatzweise vor einer Entlassung oder Ähnlichem. Weder wegen der Auswärtsschwäche, die der Europa-League-Sieger der vergangenen beiden Jahre in den grossen Ligen des Kontinents nur mit dem italienischen Tabellenletzten Hellas Verona teilt, noch wegen seiner vermeintlich schrulligen Manöver. Denn jeder halbwegs faire Anhänger erinnert sich ja, wie oft er schon wegen einer Startelf oder Auswechslung von Emery aufgestöhnt oder sogar gepfiffen hat. Und wie oft Sevilla dann genau wegen dieses Winkelzuges gewann.
Im Vordergrund: Unai Emery an der Seitenlinie. Im Hintergrund: der Schriftzug des Wettbewerbs, den der Baske mit dem Sevilla FC in den letzten zwei Jahren gewonnen hat. (Bild: Reuters/MARCELO DEL POZO)
Radikaler vielleicht als alle anderen Spitzentrainer versteht sich der 44-jährige Baske als Coach. Das sieht man nicht nur an seinem Erscheinungsbild im Stile des Basketball-Gurus Pat Riley, bei der Lektüre seines Buchs: «Siegermentalität – Die Methode Emery», oder beim Verfolgen, wie er an der Seitenlinie sein übliches Spektakel abliefert, die Partie buchstäblich mitspielt, samt rauschhafter Gestik und bellender Befehle. Das prägt vor allem seine Vorbereitung: jede Eventualität einbeziehen, jede Variante erwägen, für jede Partie den Schlüssel finden, oder auch nur das kleine, womöglich entscheidende Extra.
«Er lebt den Fussball 24 Stunden am Tag», sagt Mittelfeldspieler Vicente Iborra der TagesWoche. «Weil er viel analysiert und viele Informationen über den Gegner vermittelt, macht er es den Spielern sehr einfach. Dazu überträgt er uns seine Leidenschaft. Für mich ist er ein enorm kompletter Trainer.»
Die hinterhältigen Tricks mit dem Memorystick
Es gab auch schon gemeinere Einschätzungen, stets vorgetragen allerdings mit einem Augenzwinkern und professionellem Respekt. Eine «kolossale Nervensäge» nannte ihn mal ein Spieler von Almería, seiner ersten Station in der Primera División. Gemeint war eine gewisse Pedanterie – etwa in Form so langer Videoanalysen, «dass mir das Popcorn ausging», wie Ex-Nationalspieler Joaquín witzelte, der in Valencia unter Emery arbeitete.
Als Spieler sei er ein «ziemlicher Schisser» gewesen, sagte er einmal: Er habe unter Druck gelitten und den Wettkampf nicht genossen.
Ebenfalls aus dieser Zeit ist die Anekdote mit den Memorysticks überliefert, über die er individuelle Hausaufgaben auftrug, mit Auskünften über den nächsten Gegenspieler. Bei einem Spieler hatte Emery den Verdacht, dass er sie nie lesen würde, also gab er ihm eine leere Datei mit, und als er den Spieler am nächsten Tag fragte, ob er sich ausreichend informiert habe, antwortete der: «Klar, Míster, alles im Griff.»
Emery kommt aus einer Goaliefamilie, sein Grossvater gewann in den 1920er-Jahren zweimal den spanischen Pokal mit Real Unión Irún, sein Vater stand dort ebenfalls im Tor. Er selbst spielte im Mittelfeld, anfangs für seinen Herzensklub Real Sociedad aus San Sebastián, später für etliche Zweit- und Drittligisten.
An seiner letzten Station, im südspanischen Lorca, wurde er über die Weihnachtsferien vom Spieler zum Trainer umfunktioniert. Viele Ex-Profis sehen in der Trainerkarriere ja nur die zweitschönste Art, im Fussball zu arbeiten. Emery wusste sofort: Es ist die schönste.
Hochtouriger Fussball mit offenem Visier
Als Spieler sei er ein «ziemlicher Schisser» gewesen, sagte er einmal: Er habe unter Druck gelitten und den Wettkampf nicht genossen. Erst als Trainer habe er das echte Adrenalin kennengelernt. Die eigenen Erfahrungen würden ihm nun helfen, Blockaden bei seinen Profis zu lösen. Tatsächlich kennzeichnet nach der «Methode Emery» trainierte Teams immer ihr offenes Visier; wie auch ihr hochtouriger Fussball.
Ivan Rakitiv (links) und Unai Emery feiern den Triumph in der Europa League. (Bild: Imago)
Die Liaison mit dem ebenfalls passional veranlagten Sevilla FC stellt sich bislang als besonderer Glücksfall heraus. Gegen alle Erwartungen führte er den zwischenzeitlich ins Mittelmass abgestürzten Klub schon in seiner ersten vollen Saison zum Gewinn der Europa League. Mit teils wundersamen Erfolgen – zweimal im Elfmeterschiessen, einmal mit einem Tor in der 94. Minute – widerlegte Sevilla dabei auch ein Vorurteil, dass Emery in seiner Zeit bei Valencia begleitet hatte: dass er keiner für die grossen Spiele sei.
Vorige Saison errang Emery die beste Punktausbeute der Vereinsgeschichte in der Liga und einen erneuten Triumph in Europa. Dass ihm das mit verändertem Personal gelang, unterstrich abermals seine Qualitäten in Teambildung und Spielerentwicklung. Auch so gesehen passt er hervorragend zum Verkaufsklub Sevilla, wo er seinen Vertrag vorigen Sommer trotz höher dotierter Angebote aus Italien bis 2017 verlängerte.
Statistiken, die Emery nicht gefallen können
Die Offerten aus Italien dürften nicht die letzten Karriereoptionen gewesen sein für einen Trainer, der neben der seltsamen Malaise auf fremdem Platz auch diese Saison wieder Positivrekorde verantwortet: etwa Sevillas aktuelle Serie von zwölf Ligaheimsiegen in Serie.
Seinen Spielern gab er nach dem Rückschlag von Getafe zwei Tage frei, um die Batterien wieder aufzuladen. Im Umgang mit den Profis ist Emery über die Jahre gelassener und präziser geworden, die Videos etwa werden inzwischen in kompakteren Einheiten vorgeführt. Er selbst dürfte jedoch am Sonntag und Montag kaum eine ruhige Minute verbracht haben. Zu viele Statistiken gibt es, die ihm kaum gefallen können, wie etwa jene, dass aus 42 Eckbällen in den letzten vier Spielen kein Tor erzielt wurde. Trotz vieler grosser Spieler, trotz exzellenter Flankengeber.
Die Gegner hätten sich auf diese Spezialität Sevillas eingestellt, erklärte Emery. «Wir müssen neue Alternativen finden.» Und dass er dafür der Beste ist, bezweifeln nicht mal die, die ihn nicht verstehen.
Unai Emery vor rund zwei Jahren in Turin. Dort, wo er Stunden nach dieser Aufnahme den Europa-League-Titel gewinnen sollte. (Bild: Reuters/ALBERT GEA)