Die Schweizer Willensleistung zum späten Glück

Auf den letzten Drücker macht die Schweizer Nationalmannschaft den ersten und vielleicht schon grössten Schritt in Richtung Achtelfinals.

Switzerland's Haris Seferovic, second from right, celebrates scoring his side's second goal with teammates during the group E World Cup soccer match between Switzerland and Ecuador at the Estadio Nacional in Brasilia, Brazil, Sunday, June 15, 2014. Switze (Bild: Keystone/THEMBA HADEBE)

Auf den letzten Drücker macht die Schweizer Nationalmannschaft den ersten und vielleicht schon grössten Schritt in Richtung Achtelfinals.

Vor vier Jahren in Südafrika überraschte die Schweiz mit ihrem Startsieg gegen den Europameister Spanien die gesamte Fussballwelt. Diesmal wird das Ergebnis, ein 2:1 gegen Ecuador, diese Fussballwelt nicht sonderlich beeindrucken. Aber es ist gut möglich, dass es am Ende der Vorrunde, wenn im Kampf um die Achtelfinalplätze abgerechnet wird, als wichtiger bewertet wird als ehedem der Coup gegen Spanien. Denn mit Ecuador wurde der mutmasslich härteste Gegner im Kampf ums Weiterkommen schon mal zurückgestuft.

Gegen die Spanier hatten einst die Schweizer sehr viel Glück. Gegen Ecuador hatten sie dies insofern auch, als immer Glück dabei ist, wenn das Siegestor ein paar Sekunden vor Ablauf einer dreiminütigen Nachspielzeit fällt. Aber die Schweiz hat diesen Sieg doch verdient und vor allem hat sie ihn erkämpft im Stil, der als jener einer Turniermannschaft zu bezeichnen ist.

Denn sie tat sich schwer, in den Match zu finden. Der Rückstand war verdiente Strafe für eine mässige erste Halbzeit, vor allem für eine mässige erste halbe Stunde – und für schwache Defensivarbeit bei einem gegnerischen Freistoss.

Mehmedi nutzt seine Chance

Selbst Teamstützen wie Valon Behrami oder Stephan Lichtsteiner standen für diese Anfangsschwierigkeiten. Xherdan Shaqiri trat nicht mal die Freistösse und Eckbälle gut, und Valentin Stocker, der in der «Nati» wieder einmal nicht sein FCB-Gesicht zeigte, kam gar überhaupt nicht ins Spiel. Gut ist aber, wenn eine Mannschaft dann die Mentalität und die personellen Alternativen hat, um eine Wende zu erzwingen.

Die personelle Alternative Nummer 1 war Admir Mehmedi. Er war schon in der Vorbereitung ganz nahe an der ersten Wahl. Und er war nun bereit, als er seine Chance erhielt – zwar nicht anstelle Granit Xhakas, als dessen Herausforderer er in letzter Zeit galt, sondern anstelle Stockers. Dieser Wechsel war das erste personelle Signal, jener Haris Seferovics (für Josip Drmic) eine Viertelstunde vor Schluss das zweite. Und was kann sich ein Trainer Schöneres vorstellen, als dass jene beiden die Tore zu Wende schiessen, die er eingewechselt hat.

Mehmedi schoss gleich das 1:1. Er war auch fortan eine klare Verstärkung, man kann sich nun nicht mehr vorstellen, dass er gegen Frankreich nicht in der Startelf steht. «Es war nach der hervorragenden Vorbereitung schwer, in draussen zu lassen», sagt Hitzfeld. Und Mehmedi war «sehr enttäuscht» gewesen, nicht in die erste Wahl zu kommen, «nach der guten Vorbereitung und der Saison mit Freiburg». Umso glücklicher war er nach seinem ersten Pflichtspieltor für die Schweiz.

Seferovic wiederum verlieh, nachdem sich Drmic müde gelaufen und auch nicht mehr sehr glücklich gespielt hatte, dem Angriff nochmals ein Plus an Punch. Am Ende war es sein zweites wichtiges Länderspieltor in letzter Sekunde, nach dem 1:0 gegen Zypern vor einem Jahr.

Die Rolle von Rodriguez

Aber es gab auch vorteilhafte taktische Alternativen. So war die Offensive besser, nachdem Shaqiri und Xhaka ihre Plätze getauscht hatten – und zwar nicht ab und zu wie schon oft, sondern für die ganze zweite Halbzeit. Shaqiri war im Zentrum eindeutig besser im Match als vorher. Eine taktische Massnahme, die mehr als nur eine Kleinigkeit war, wies Hitzfeld zur Pause an, als er den Wolfsburger Spezialisten Ricardo Rodriguez anstelle Shaqiris Standardsituationen treten liess.

Gleich die erste führte dann zum Ausgleich, ein Eckball in den «Fünfer» und auf den Kopf Mehmedis, der sich stark durchsetzte. Aber es war nur der erste Assist Rodriguez, der überragend spielte. Denn später war sein flacher Pass auf den vorderen Pfosten die letzte Vorarbeit für Seferovics 2:1. Und so ganz nebenbei nahm er auch Ecuadors Star Antonio Valencia von Manchester United aus dem Spiel, als wäre es die einfachste Sache der Welt.

Behramis grosse Tat

Den deutlichsten Beweis für die gute Mentalität dieser Mannschaft, die man nach dem 2:1 gar Winnermentalität nennen durfte, lieferte schliesslich Behrami. Was er, nach einer anfangs mageren, später noch immer nicht wirklich überzeugenden Leistung in der letzten Minute der Nachspielzeit leistete, war Siegeswillen und Mannschaftsdienlichkeit pur. Und es war ganz simpel der Unterschied zwischen Sieg und Niederlage.

Die zwei Einwechslungen des Trainers Ottmar Hitzfeld waren das Eine, die Willensleistung von Valon Behrami der andere Faktor beim Last-Minute-Sieg der Schweiz.

Die zwei Einwechslungen des Trainers Ottmar Hitzfeld waren das Eine, die Willensleistung von Valon Behrami der andere Faktor beim Last-Minute-Sieg der Schweiz. (Bild: Reuters) (Bild: Reuters/EDDIE KEOGH)

Es war eine absolut aussergwöhnliche Szene: Zuerst hinderte Behrami Michael Arroyo, der für den Ex-Basler Felipe Caicedo (25-jährig und inzwischen beim Al-Jazira Club tätig) eingewechselt worden war, mit einem aussergewöhnlichen Tackling daran, aus bester Position abzuschliessen – aus einer Lage, die in sehr vielen Fällen zu einem Tor führt.

Aber nicht genug damit. Er sah, noch am Boden, die Chance zu einem letzten Konter. Er leitete den mit einer Entschlossenheit ein, die sich auch durch ein Foul nicht bremsen liess. Er fiel, rappelte sich auf, trieb den Ball durchs Mittelfeld zu Seferovic, und am Ende leistete Rodriguez mit einer perfekten flachen Hereingabe die Vorarbeit zum Siegtreffer. Es war eine emotionale Schlussminute, von der Fussballmannschaften (und ihre Fans) nur träumen können.

Und dennoch: «Nur» die erste Pflicht ist erfüllt

Die Pflicht erfüllt, ein Startspiel gewonnen, das sehr wohl schon der «Final» im Kampf um den Platz in den Achtelfinals gewesen sein dürfte – das hat die Schweiz. Spielausgänge wie dieser können am Anfang einer positiven Entwicklung stehen – aber sie müssen es nicht, wie das Beispiel Spanien vor vier Jahren zeigt.

Aber die Schweiz hat mit der Steigerung in der zweiten Halbzeit lediglich einen Gegner niedergekämpft, der sicher nicht schlecht war, aber international nicht mehr als Mittelmass besitzt. Oder anders gesagt: Wer WM-Achtelfinalist werden will, muss eine Mannschaft vom Zuschnitt von «La Tri» besiegen.

So sieht es aus, wenn Ottmar Hitzfeld «beinahe explodiert», wie der Nationaltrainer sein Seelenleben kurz vor Schluss beschreibt.

So sieht es aus, wenn Ottmar Hitzfeld «beinahe explodiert», wie der Nationaltrainer sein Seelenleben kurz vor Schluss beschreibt. (Foto: Imago) (Bild: Imago)

So sieht es auch Hitzfeld: «Wir zeigten am Anfang Nerven, wir erwischten also einen schwachen Start. Aber in der Pause sagte ich der Mannschaft, sie solle ruhig bleiben. Wir wussten ja, dass wir immer zu einem, zwei Toren gut war.» Auf jeden Fall gegen einen Gegner, «der nach Ballverlusten Räume bot».

Am Ende, schildert Hitzfeld, sei er «beinahe explodiert». Wie da die gesamte Besatzung der Schweizer Bank jubelnd aufs Feld stürmte, zeigte, wie es um den Spirit in diesem Team bestellt ist.

Berahmi – wie einst Kubi

Tore wie dieses 2:1 Seferovics sind emotionale Raritäten für die Nati. Das letzte dieser Art hat ebenfalls Seferovic erzielt, vor einem Jahr in der Ausscheidung gegen Zpern in Genf. Da lupfte er den Ball nach einem brillanten Zuspiel Shaqiris über den Torhüter ins Tor.

Dieses 2:1 von Brasilia wird aber vor allem wegen Behramis Herkulesarbeit in Erinnerung bleiben. Sie erinnerte ans vorletzte «Nati»-Tor in einem wichtigen Spiel in letzter Minute. Am 1. Mai 1991 gegen Bulgarien in Sofia lag die Schweiz 0:2 zurück; sie wirkte chancenlos und die letzte EM-Chance schien vergeben. Aber dann kamen die Schweizer auf, nach einer Stunde schoss Adrian Knup das 1:2, in der 85. Minute den Ausgleich.

Und dann, in letzter Minute, enteilte Kubilay Türkyilmaz mit einem Befreiungsschlag von der Strafraumgrenze übers halbe Feld. Der hinterste Bulgare wollte ihn foulen, «Kubi» schüttelte ihn ab, wie in Brasilia Behrami keinen Widerstand, kein Foul zur Kenntnis nahm. Als Letzter hechtete Torhüter Boris Michailow, heute bulgarischer Verbandspräsident, dem Tessiner nach – erfolglos. 3:2.

Danach explodierte nicht Hitzfeld fast, sondern Ulli Stielike. Auf den Knien rutschte er über den regennassen Rasen, die Hose der feinen Schale war danach arg in Mitleidenschaft gezogen. So weit ging Hitzfeld in seinem Alter dann doch nicht mehr.

Nächster Artikel