Die USA und der Fussball: Der Soccer emanzipiert sich

Das US-Team von Jürgen Klinsmann – im letzten WM-Achtelfinal heute Gegner von Belgien (22 Uhr MESZ) – sorgt für Rekordeinschaltquoten in den Vereinigten Staaten. Das unterstreicht die Entwicklung des Fussballs in einem Land, in dem er es nicht einfach hat.

Fussball und die USA – lange Zeit ein schwieriges Verhältnis. Hier eine Szene aus New York vor der Skyline von Lower Manhattan. (Bild: Keystone/CRAIG RUTTLE)

Das US-Team von Jürgen Klinsmann – im letzten WM-Achtelfinal heute Gegner von Belgien (22 Uhr MESZ) – sorgt für Rekordeinschaltquoten in den Vereinigten Staaten. Das unterstreicht die Entwicklung des Fussballs in einem Land, in dem er es nicht einfach hat.

Jahrzehntelang galten die Vereinigten Staaten von Amerika als Fussball-Diaspora. Doch mit der Weltmeisterschaft 2014 findet der vor etwa fünf Jahren eingesetzte Trend steigenden Interesses seinen Höhepunkt: Beim zweiten Gruppenspiel des USA-Teams gegen Portugal wurde ein neuer TV-Zuschauerrekord erreicht.

Die USA nehmen zum neunten Mal an einer WM-Endrunde teil. Grösster Erfolg war das Erreichen des Halbfinales 1930, das 1:6 gegen Argentinien verloren ging. 2002 erreichten die Nordamerikaner das Viertelfinale (0:1 gegen Deutschland), dreimal standen sie im Achtelfinale, zuletzt 2010 in Südafrika (1:2 gegen Ghana). Viermal kam das Aus in der Vorrunde.

24,8 Millionen US-Amerikaner sahen, wie das Team von Jürgen Klinsmann durch ein Gegentor in der Nachspielzeit die frühzeitige Qualifikation für das Achtelfinale verpasste. Das war, wie die Fifa meldet, eine höhere Zuschauerzahl als der Durchschnitt bei den World Series 2013 im Basketball, und der Weltverband mutmasst bereits: «Der überwältigende Anstieg des Interesses in den USA ist ein wahrer Wendepunkt.» Und nun will Jürgen Klinsmann mit seinem Team über Belgien in die Viertelfinals einziehen.

Die Behauptung, Fussball friste im Vergleich zu den grossen US-Sportarten American Football (NFL), Basketball (NBA) und Baseball (MLB) nur ein Schattendasein, stimmt nicht mehr. Fussball hat mit der Major League Soccer (MLS) in den USA und Kanada einen Platz an der Sonne gefunden, auch wenn die grossen drei Ligen uneinholbar weit weg sind. Doch schon seit drei Jahren weist die MLS mit rund 18’000 Zuschauern pro Spiel einen höheren Zuschauerschnitt auf als die Eishockey-Liga NHL.

Dempsey – der Rekordverdiener

Clint Dempsey, der mit zwei WM-Treffern auf sich aufmerksam machte, ist ein Beispiel für die rasante Entwicklung. Der 31-jährige Stürmer wurde im August vorigen Jahres nach erfolgreichen Zeiten bei Tottenham und Fulham in die MLS gelockt. Dempsey kassiert als Spitzenverdiener der MLS laut offiziellen Angaben bei den Seattle Sounders 5’038’566 US-Dollar (rund 4,5 Millionen Franken) pro Jahr. Zum Heimdebüt des Nationalspielers im August kamen in Seattle 67’385 Zuschauer. Es war die zweitbeste Zuschauerzahl in der MLS-Geschichte.

Spitzenverdiener in der MLS: Clint Dempsey, zweifacher Torschütze für die USA an der WM in Brasilien.

Spitzenverdiener in der MLS: Clint Dempsey, zweifacher Torschütze für die USA an der WM in Brasilien. (Bild: Reuters) (Bild: Reuters/Toru Hanai)

Allerdings hat Seattle hat eine Sonderstellung in der MLS. Die Zuschauerzahlen des Westküsten-Clubs haben ein Niveau erreicht, die auch in allen grossen Ligen Europas einen Spitzenwert darstellen würden. Rund 44’000 Besucher beträgt der Durchschnittsbesuch im Century Link Field. Würde die Kapazität des Stadions, das auch NFL-Meister Seattle Seahawks nutzt, für den Fussball nicht meist halbiert, könnten die Sounders noch mehr Zuschauer begrüssen.

Steigende Zuschauerzahlen, kühne Projekte

Don Garber, der Commissioner der Major League Soccer und auch Klinsmann plädieren immer wieder dafür, dass die Vereine auch die besten US-Spieler an sich binden sollten, nachdem viele Nationalspieler in der Vergangenheit nach Europa wechselten. Der Trend scheint vorerst gestoppt, und auch der Captain der US-Auswahl, der Ex-Gladbacher Michael Bradley, kehrte von der AS Roma zum Toronto FC in die MLS zurück. Immerhin zehn der 23 Spieler im WM-Kader der USA spielen in der heimischen Liga.

Diese boomt auch, was die Anzahl der Teilnehmer betrifft. Schlagzeilen machte die Ankündigung von David Beckham, der sieben Jahre lang für die Los Angeles Galaxy spielte, dass er ein eigenes Team gründen wird. Es soll ab 2016 in Miami einen weissen Fleck auf der MLS-Karte tilgen. Für die Gründung eines Vereins und eine Lizenz sind durchschnittlich rund 25 Millionen Dollar aufzubringen.

Geordnetes Public viewing in Seattle, einer der Hauptstädte des US-Fussballs.

Geordnetes Public viewing in Seattle, einer der Hauptstädte des US-Fussballs. (Bild: Keystone) (Bild: Keystone/ELAINE THOMPSON)

Beckhams kühnes Stadionprojekt an exponierter Lage von Miami Küstenstrich ist zwar gescheiterte. Mit ihren vielen Einwanderern stösst Fussball jedoch auf ein hohes Interesse in der Stadt. Zu den dort ausgetragenen Testspielen Real Madrid gegen FC Chelsea kamen 65’000 Zuschauer, zu Brasilien gegen Honduras sogar 72’000.

Während der WM läuft die Saison der Liga munter weiter

Zuletzt wuchs die MLS durch die Aufnahme von Montreal Impact von 18 auf 19 Clubs. Im nächsten Jahr sollen als neue Teilnehmer der New York City FC, ein Ableger von Manchester City, und Orlando City dazukommen, die gerade die Verpflichtung des 32-jährigen Kaka bekanntgegeben haben. Beckhams Miami Jaguars wäre dann das 22. MLS-Team.

Dass die Saison während der WM munter weiter läuft, ist nebenbei eine Kuriosität, die in Europa wohl undenkbar wäre. Aber der Fussball ist in Nordamerika auf dem Vormarsch, das zeigt auch eine kürzlich entbrannte Diskussion. Man solle den Begriff Soccer für diese schöne Sportart endlich beerdigen, das Spiel müsse so heissen wie in aller Welt, eben Football.

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Zum Thema:

«Klinsmann klingt nach Superman» (Süddeutsche Zeitung)

«Fussball boomt plötzlich in den USA» (SID, Hamburger Abendblatt)

«Die unglaubliche Geschichte von Captain America» (Süddeutsche Zeitung)

«Soccer-Boom in den USA während Klinsmann-Ära» (nachrichten.at)

 

 

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