Es war ein Abend, der die Gewichte im Fussball verlagert hat: Die Bayern finden beim 4:0 über den FC Barcelona eine Erfolgsformel gegen das Kurzpassformat. Das Debakel der Spanier in München kommt einer Zäsur gleich – und mittendrin feiert Uli Hoeness.
Für Thomas Müller war dieser Abend ein einziges Vergnügen. Das erste Tor mit dem Kopf erzielt (25. Minute), das letzte mit dem Fuss (82.), dazu das 2:0 von Gomez (49.) mit dem Kopf und das 3:0 von Robben (73.) mit einem (irregulären) Bodycheck vorbereitet: Der fröhliche Tausendsassa war sich an diesem denkwürdigen Europapokalabend zu nichts zu schade und für alles zu haben. Müller wurde deshalb beim 4:0-Triumph des FC Bayern im Halbfinalhinspiel der Champions League zum Albtraum des schwer geschlagenen Fussball-Trendsetters von gestern.
Doch erstaunt war der 23 Jahre alte Oberbayer nicht über die Demütigung des FC Barcelona am Dienstagabend in München. «Wenn man das ganze Spiel betrachtet, war das kein grosses Wunder», kommentierte er den gleichwohl aufsehenerregend deutlichen Sieg des neuen deutschen Meisters, «wir haben gezeigt, dass wir da sind, wenn es darauf ankommt. Aber auch, wenn es (wie bei der mit Toren, Toren, Toren gefeierten jüngsten Bundesliga-Erfolgsserie) nicht darauf ankommt.»
«Eine Lehrstunde für Barcelona»
Bayern ist in diesen Wochen, ob auf den kleineren nationalen Schauplätzen, ob auf der grossen internationalen Bühne, allzeit präsent und mutet derzeit nahezu unschlagbar an. Dass den Münchnern am kommenden Mittwoch beim Rückspiel in Barcelona noch ernsthafte Gefahren drohen, glaubt nach Teil eins der Vorschlussrunde so gut wie niemand mehr.
Die spanische Sportzeitung «As» beschrieb den aus der Sicht der Katalanen verheerenden Abend in Deutschland so: «Ein Wirbelsturm zermalmte Barcelona – eine Lehrstunde der Bayern, die Barcelona physisch und taktisch total überlegen waren.»
«Dortmund hat gegen Málaga in der 90. Minute zwei Tore geschossen. Dann kann man also theoretisch 180 Tore machen in einem Spiel.»
Doch Müller, ein Schelm und Schlitzohr auf all seinen Wegen, machte nur mal zum Spass eine Gegenrechnung auf: «4:0 ist ein Vorsprung, der nicht ganz so schlecht ist. Aber die Dortmunder haben gegen Málaga (im Viertelfinalrückspiel der Champions League beim 3:2-Sieg) auch in der 90. Minute zwei Tore geschossen. Dann kann man also theoretisch 180 Tore machen in einem Spiel.»
Messi – für einmal eher schmächtig als mächtig
Aber nicht gegen die Bayern, die den Blaugrana am Dienstag Beine machten und ihnen die höchste Europacup-Niederlage seit 16 Jahren zufügten. Die Meister der geschmeidigen Ballzirkulation, Xavi, Iniesta, vor allem der von seiner Oberschenkelblessur augenscheinlich nicht völlig genesene Messi muteten diesmal eher schmächtig als mächtig an vis à vis einem Kollektiv der breiten Schultern, das sich im Augenblick alles zutraut, vor niemand zurückscheut und höchste Ziele mit frappierender Selbstverständlichkeit ansteuert.
Sollten die Bayern jetzt noch das Champions-League-Finale am 25. Mai in London verfehlen, es wäre eine gewaltige, kaum vorstellbare Überraschung. «Es ist fast unmöglich, das noch einmal umzudrehen», sagte Barcelonas Abwehrchef Piqué nach dem Debakel von München, das wie eine Zäsur wirkte.
Bayerns Erfolgsformel gegen das Tiki-Taka
Herrschte bisher trotz gelegentlicher Rückschläge die Meinung vor, dass der Fussball des FC Barcelona im Tiki-Taka-Kurzpassformat das Mass aller Dinge sei, boten die Münchner am Dienstag die Erfolgsformel der Gegenwart an. «Wir müssen sie aggressiv bekämpfen und ganz eng pressen, damit sie nicht so viel Ballbesitz haben», hatte Trainer Jupp Heynckes seinen Spielern vor dieser Reifeprüfung gesagt.
Tiki-Taka auf Grund gelaufen. Wunderbare Grafik der gestrigen Passstafetten, die mehr sagt als jeder Matchbericht: twitter.com/mhermann_/stat…
— Michael Hermann (@mhermann_) 24. April 2013
In der Kategorie Ballbesitz gewann Barcelona zwar auch in München wie überall in den vergangenen fünf Jahren (68:32 Prozent), doch war dieser Besitz nicht mit dem Eigentum am Spiel zu verwechseln. In den Räumen, in denen der Fussball entschieden wird, dominierten die defensiv hingebungsvoll kämpfenden und offensiv entschlossen ihre Gelegenheiten nutzenden Bayern.
Müller – das Beispiel für Unwiderstehlichkeit
Sie nutzten ihre körperliche Überlegenheit bei Kopfbällen zum 1:0 und auf dem Weg zum 2:0, sie spielten ihre unwiderstehliche Willenskraft und Robustheit bei der Inszenierung des 3:0 aus und liessen sich vom Momentum beim 4:0 beflügeln, als Torschütze Müller eigentlich schon längst ausgewechselt sein wollte. Heynckes aber liess seinen besten Mann, der in der 81. Minute einen Schlag auf den Fuss bekommen hatte, erst einmal weitermachen – zum Glück für den reisserischen Dauerläufer.
«Wenn man Stürmerblut hat», sagte Schütze Müller später über seinen abschliessenden Treffer, «weiss man, wo man zu stehen hat.» Und wo man dann am schönsten jubelt: direkt vor der Südtribüne, wo die heissesten Bayern-Fans ihr Stadiondomizil haben.
Und mittendrin: Uli Hoeness
Von dort wurde auch Uli Hoeness lautstark gefeiert, der Steuersünder und Wohltäter in einer Person. Hoeness war wie immer mit rot-weissem Schal als Faninsignie im Stadion und genoss wie fast alle der 68’000 Zuschauer in der ausverkauften Arena ein Spiel, über das der Bayern-Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge später sagte: «So einen Abend habe ich auch noch nicht erlebt, und ich bin schon lange dabei. 4:0 gegen Barcelona, das ist wie ein Traum.»
Auch für Hoeness war diese Gala seiner Bayern nach all den schweren Tagen unter Stichworten wie Steuerhinterziehung, Hausdurchsuchung, Haftbefehl zumindest herzerwärmend. «Dieser Sieg ist auch für ihn», sagte Arjen Robben, neben Müller der spektakulärste Münchner Profi an diesem prickelnden Abend der Gewichtsverlagerung im europäischen Meisterfussball.
Die solidarische Stimmung der grossen Bayern-Familie spiegelte auch dieser Satz des Hausvorstands Rummenigge: «Einen FC Bayern ohne Uli Hoeness kann, will und werde ich mir nicht vorstellen.» Gute Freunde kann halt niemand trennen – in guten wie in schlechten Zeiten.