Die zehn Gebote für eine perfekte Tournee

Zum Start der 61. Vierschanzentournee stellt sich einmal mehr die Frage: Wieso hat eigentlich Simon Ammann alles gewonnen, nur nicht die Tournee?

Germany's Tobias Bogner waits for the start of his trial jump at the first stage of the four hills ski jumping tournament in Oberstdorf, southern Germany, Saturday, Dec. 29, 2012. (AP Photo/Matthias Schrader) (Bild: Keystone/Matthias Schrader)

Zum Start der 61. Vierschanzentournee stellt sich einmal mehr die Frage: Wieso hat eigentlich Simon Ammann alles gewonnen, nur nicht die Tournee?

Schön langsam bekommen sie im österreichischen Adler-Horst ein massives Problem. Ein massives Platzproblem. Die herkömmlichen Tische im Hotel Oberstdorf, dem traditionellen Domizil der ÖSV-Springer beim Tourneeauftakt, sind längst zu klein geworden, um all jenen jungen Herren eine würdige Bühne zu bieten, die seit Jahren die Konkurrenz ordentlich über den Schanzen-Tisch ziehen:

Die 61. Vierschanzentournee

So, 31. Dezember (16.00 Uhr)
Oberstdorf, Schattenbergschanze
(Rekord 143,5 Meter, 2003)

Di, 1. Januar (14.00 Uhr)
Garmisch-Partenkirchen
Grosse Olympiaschanze
(143,5 Meter, 2010)

Fr, 4. Januar (13.45 Uhr)
Innsbruck, Bergiselschanze
(136,0, 2004)

So, 6. Januar (16.30 Uhr)
Bischofshofen
Paul-Ausserleitner-Schanze
(143,0, 2005)

Liste der K.o.-Duelle in Oberstdorf
Alle Tagessieger seit 1953

Die Vierschanzentournee

Wolfgang Loitzl, Tourneesieger 2009, Andreas Kofler, Tourneesieger 2010, Thomas Morgenstern, Tourneesieger 2011, Gregor Schlierenzauer, Tourneesieger 2012 – eine Tafel allein genügt für diese Vollversammlung an rot-weiss-roten Siegergenen mittlerweile nicht mehr. «Wir wissen, wie es geht», sagt lächelnd Ernst Vettori, der Sportdirektor der österreichischen Skispringer und selbst zweifacher Tourneesieger. «So etwas war noch nie da, dass ein Land gleich vier Tourneegewinner stellt, die zudem alle noch aktiv sind.»

Wie machen das die österreichischen Skispringer nur? Wieso schweben sie seit Jahren bei der Vierschanzentournee in anderen Sphären? Vor allem aber: Wie wird ein Adler überhaupt erst zum Tourneetriumphator? Und überhaupt: Wieso hat eigentlich Simon Ammann alles gewonnen, nur nicht die Tournee? Der Schweizer unternimmt ab Sonntag in Oberstdorf den x-ten Anlauf, um endlich den berühmten Grand Slam (Olympiagold, WM-Gold, Weltcupgesamtsieg, Tournee) perfekt zu machen.

Vielleicht sollte Simon Ammann Nachhilfe bei den Österreichern nehmen. Die vier Tournee-Triumphatoren der letzten Jahre geben einen Einblick: Was ist ein Muss, was ein No-Go, was ist für einen Gewinner oberste Pflicht, was völliges Tabu. Die Zehn Gebote für die perfekte Tournee.

Die Generalprobe

Die Vierschanzen-Tournee trägt diesen Namen zu Unrecht. Sie ist eigentlich eine Fünfschanzen-Tournee. Denn eine erste Vorentscheidung im Kampf um den Tourneesieg fällt alle Jahre wieder bei der Generalprobe in Engelberg, wenige Tage vor dem Tourneeauftakt in Oberstdorf. In Adlerkreisen gilt: Wer auf der Grossschanze im schweizerischen Engelberg noch nicht in Hochform ist, der wird dann auch zwischen Oberstdorf und Bischofshofen nicht mehr zu Höhenflügen ansetzen. «Du kannst das Skispringen über Weihnachten nicht mehr neu erfinden», erklärt Wolfgang Loitzl, «während der Tournee wird die Form nur in den seltensten Fällen besser.» Schlechte Vorzeichen für Simon Ammann, der in Engelberg nur auf den Rängen 41 und 26 gelandet war.

Das Rechenverbot

Der allzu neugierige Blick auf die Resultatsliste hat schon so manchen Skispringer aus der Flugbahn geworfen. Wer sich auf Rechenspiele und andere arithmetische Tagträume einlässt, der hat bereits verloren. Zumal die Tournee in der Gegenwart schon genug Herausforderungen und Hürden bietet. «Wichtig ist, dass man die Tournee step by step angeht und einen Sprung nach dem anderen absolviert», sagt Andreas Kofler, «es stört nur, wenn man sich zu viele Gedanken über den nächsten Bewerb macht.»

Die Tourneesieger der letzten zehn Jahre

2002 Sven Hannawald (D)
2003 Janne Ahonen (Fin)
2004 Sigurd Pettersen (Nor)
2005 Janne Ahonen (Fin)
2006 Ahonen/Jakub Janda (Tsch)
2007 Anders Jakobsen (Nor)
2008 Janne Ahonen (Fin)
2009 Wolfgang Loitzl (Ö)
2010 Andreas Kofler (Ö)
2011 Thomas Morgenstein (Ö)
2012 Gregor Schlierenzauer (Ö)

Alle Gesamtsieger

Der Auftakt

Die Vergangenheit hat gezeigt: Das erste Tournee-Springen ist bereits richtungsweisend. Wer auf der Schattenbergschanze in Oberstdorf ins Rampenlicht springt, der ist nicht selten auch dann beim Finale in Bischofshofen der grosse Strahlemann. In den vergangenen elf Jahren gewann gleich sieben Mal der Sieger von Oberstdorf am Ende auch die Gesamtwertung. «Man kann die Tournee in Oberstdorf nicht gewinnen, aber man kann sie definitiv hier verlieren», weiss Titelverteidiger Gregor Schlierenzauer, der Vorjahrssieger in Oberstdorf. Simon Ammann ist die Ausnahme dieser Regel: Der 31-Jährige gewann 2008 zwar in Oberstdorf, am Ende siegte aber Wolfgang Loitzl.

Die Konstanz

Eintagsfliegen haben bei der Tournee nichts verloren. Das Zauberwort zwischen Oberstdorf und Bischofshofen heisst Konstanz. Ein einmaliger Höhenflug allein ist zu wenig, ein einziger Ausrutscher schon zu viel. «Du darfst dir bei der Tournee keinen Fehler, keine Schwäche erlauben», erklärt Gregor Schlierenzauer. Der 22-jährige Tiroler ist seit jeher ein Muster an Beständigkeit, in jedem zweiten Springen landet er auf dem Podest – vier Siege noch, dann hat er den Finnen Matti Nykänen (46 Weltcupsiege) als Nummer 1 des Skispringens überflügelt. «Das wäre für mich die grösste Auszeichnung, weil es zeigt, wie konstant ich in den letzten Jahren gesprungen bin», so Schlierenzauer. Auch bei der Tournee ist Konstanz gefragt: Acht Mal in der Tournee-Geschichte hat ein Springer die Gesamtwertung gewonnen, ohne einen Tagessieg gefeiert zu haben. Zuletzt Janne Ahonen 1999.

Das Bei-sich-bleiben

Ein geflügeltes Wort im Reich der österreichischen Springer. Thomas Morgenstern hat das «Bei-sich-bleiben» zum Credo erhoben und bei seinem Tourneesieg 2011 praktisch von nichts anderem mehr gesprochen. Was Morgenstern genau damit meint? So eine Tournee mit ihrem stressigen Terminkalender, den vier Springen in acht Tagen, der grossen Publicity, den hunderten Medienvertretern und all den Nebengeräuschen bietet viele Möglichkeiten und Gelegenheiten, vom Kurs abzukommen. «Wenn es mir gelingt bei mir zu bleiben, dann blende ich alles aus, was um mich passiert und ich konzentriere mich nur auf mich», erklärt Morgenstern. Es wäre verständlich, wenn der 26-Jährige diesmal nicht bei sich bleibt – Morgenstern wurde am 25. Dezember Vater einer Tochter (Lilly).

Der Spassfaktor

Ein ungeschriebenes Gesetz im Adler-Reich lautet: «Spassvögel fliegen weiter.» Wer könnte das besser wissen als Jungstar Gregor Schlierenzauer, der vier Jahre lang verbissen und verkrampft seinem erklärten Kindheitstraum Tourneesieg vergeblich hinterher sprang. «Man muss mit Freude an die Sache heran gehen und versuchen, die Tournee zu geniessen», sagt der 22-Jährige. Nicht von ungefähr hatten die Österreicher vor Jahren sogar einen – kein Witz – Humorberater beschäftigt. Vielleicht würde das auch Ammann auf die Sprünge helfen. Er gesteht heute selbst: «Ich war oft bei der Tournee zu übermotiviert, anstatt es einfach passieren zu lassen.»

Simon Ammanns Bilanz der Vierschanzentournee

2002 | Platz   5 (3. in Obersdorf)
2003 | Platz 24
2004 | Platz 14
2005 | Platz 40
2006 | Platz 13
2007 | Platz   3 (3. Innsbruck, 3. Bischofshofen)
2008 | Platz 15 (3. Innsbruck*)
2009 | Platz   2 (1. Obersdorf, 2. Garmisch, 2. Bischofshofen)
2010 | Platz   5 (3. Garmisch, 2. Innsbruck, 3. Bischofshofen)
2011 | Platz   2 (1. Garmisch)
2012 | Platz 19

*Ersatzspringen in Bischofshofen
Liste alle Tagessieger seit 1953

Der Flow

Noch so ein geflügeltes Wort, das am Schanzentisch oft zu hören ist. Der berühmte Flow ist der Idealzustand, den jeder Skispringer anstrebt. «Du sitzt oben auf dem Balken und du weisst ganz genau, dass du jetzt den weitesten Sprung hinunterknallen wirst. Egal, wie der Wind ist», erklärt Thomas Morgenstern, der dieses Gefühl der Unbesiegbarkeit und Souveränität schon öfter in seiner Karriere geniessen konnte. Leider ist der Flow kein Dauerzustand, «aber so etwas kann sich während der Tournee entwickeln», erinnert sich Wolfgang Loitzl. «Da schaltest du den Kopf aus und springst wie in Trance.»

Die Fitness

Vier Springen in einer Woche, dazu stundenlange Fahrten von einem Tourneeort zum nächsten – die Tournee ist für die leichtgewichtigen Skispringer auch körperlich eine schwere Herausforderung. «Deshalb ist es umso wichtiger, dass du topfit anreist», meint Andreas Kofler, der über Weihnachten eine Verkühlung auskuriert hat. «Weil während der Tournee sind die Erholungsphasen extrem kurz.» Doch die Belastung für den Körper ist nur das eine, «so eine Tournee ist vor allem mental eine Herausforderung», so Kofler, «weil sich 24 Stunden alles nur ums Skispringen dreht.» Erholung finden die Österreicher in ihrem Luxusbus, mit dem sie während der Tournee wieder unterwegs sind.

Die Gelassenheit

Die Seriensiege der Vergangenheit sind einerseits Bürde, verleihen andererseits auch ein Gefühl der Sicherheit. «Wir können heute lustvoll und kreativ die Wettkämpfe angehen», sagt Erfolgstrainer Alexander Pointner, «ich merke auch, dass meine Athleten die Messer zwischen den Zähnen verloren haben und viel relaxter in die Tournee starten.»

Die Konkurrenz

Das Aufbegehren der deutschen Erzrivalen, die bis zum Weltcup in Engelberg den Weltcupleader (Severin Freund) stellten und sogar die Nationenwertung anführten, hat die Österreicher angestachelt und zusätzliche Energie frei werden lassen. «Jetzt geben wir richtig Gas», kündigt Cheftrainer Alexander Pointner an. «Wir haben es schon gezeigt, dass wir es können.» Der österreichische Skisprung-Doyen Anton Innauer ist sogar davon überzeugt, dass die Deutschen den Österreichern Flügel verleihen. «Das kann einige Prozent bringen.»

*Einzelmedaillen **erstmaliger Olympiasieg
Der Grand Slam im Skispringen
Name Olympiagold* WM* Tournee Weltcup
Matti Nykänen (Fin) 1984 1982 1982/83 1982/83
Jens Weissflog (D) 1984 1985 1983/84 1983/84
Espen Bredesen (Nor) 1994 1993 1993/94 1993/94
Thomas Morgenstern (Ö, aktiv) 2006 2011 2010/11 2007/08
Simon Ammann (Sz, aktiv) 2002** 2007   2009/10
Adam Malysz (Pol)   2001 2001/02 2000/01
Gregor Schlierenzauer (Ö, aktiv)   2011 2011/12 2008/09
Janne Ahonen (Fin)   2005 1998/99 2003/04
Kazuyoshi Funaki (Jap) 1998 1999 1997/98  
Toni Nieminen (Fin) 1992   1991/92 1991/92

Artikelgeschichte

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