Die Botschaft der brasilianischen Spieler war nach dem Debakel simpel: Wir sind schuld, aber wir haben unser Bestes versucht. Gerechnet wird schon mit dem nächsten Sieg. Dass die Mannschaft dazu einfach zu schlecht sein könnte, ist als Gedanke für manche immer noch neu.
Im Auditorium des Estádio Mineirão lief sanfter Bossanova, als Luiz Felipe Scolari zum Scherbengericht erschien. Musik aus einer Zeit, in der Brasilien für Leichtigkeit und Optimismus stand. Und für unerreichte Fussballkunst. Lang ist es her.
Der Bossanova wurde abgedreht, «Felipão» nahm Platz und hob an, die Hintergründe einer nationalen Katastrophe zu erklären. Das ist ja, wie wenn die Brasilianer 1:7 im Fussball verlieren: so eine Formulierung hätte bis zu diesem Juliabend in Belo Horizonte immer etwas Absurdes, Unvorstellbares bezeichnet. Jetzt war genau das eingetreten. Im WM-Halbfinale, vor eigenem Publikum.
Scolari wurde nach einer Botschaft an das Volk gefragt: «Dass wir unser Bestes versucht haben», antwortete er als Erstes. Dann bat er um Entschuldigung und übernahm die volle Verantwortung. Seinen Rücktritt erklärte er nicht. Am Samstag gibt es noch ein Spiel um Platz drei. Womöglich kann es der Anfang einer Katharsis sein. Womöglich kommt die nächste Packung, dann wird alles nur noch schlimmer.
Am Ende des «unser Bestes versucht» stand die Demütigung. (Bild: RUBEN SPRICH)
In dem Zustand, in dem sich die Seleção am Dienstag präsentierte, ist ihr alles zuzutrauen. Das ungläubige Publikum erlebte die vollständige Desintegration einer Fussball-Mannschaft. Abwehrspieler, die zum ersten Mal zusammen auf dem Platz zu stehen schienen; ein Mittelfeld, das in der Regel nur aus zwei Spielern bestand; Angreifer, denen jeder Sinn für die Spielsituation fehlte. Es war gar nicht so leicht, das in Worte zu fassen; insofern war Scolari natürlich nicht zu beneiden.
Andererseits ist das Wort seine grosse Stärke. So hat er die Spieler vor einem Jahr während des gewonnenen Confed-Cups und jetzt wieder auf sich eingeschworen wie auf einen Sektenführer. Auch nach dem Schlusspfiff im Mineirão versammelte er sie in einem grossen Kreis um sich. Man kann davon ausgehen, dass dort die Basis gelegt wurde für die gemeinsame Interpretation des Unglücks.
Die Erklärung: eine Naturkatastrophe
Die liess sich im Wesentlichen darauf herunterbrechen, dass die Mannschaft zum Opfer einer Art Naturkatastrophe geworden war. «Bis zum ersten Tor waren wir gut organisiert», sagte Scolari. Dann kam die Panik, vier Gegentore in sechs Minuten. Und dann war es eigentlich wieder okay, fand der Coach: «Nach dem 0:5 haben wir weiter nach vorn gespielt und zum Beginn der zweiten Halbzeit gute Chancen gehabt.»
Für Trainer Felipe Scolari die Opfer einer deutschen Naturkatastrophe: David Luiz und Luiz Gustavo nach dem Spiel. (Bild: DAVID GRAY)
Das Resultat war so gesehen nicht mehr als ein isoliertes Ereignis ohne grössere Aussagekraft. «Das wird weder Deutschland noch uns jemals wieder passieren», sagte der Trainer. «Wir sind nicht taktisch zurückgeblieben.» Scolari sprach jetzt ernsthaft von der WM 2018. «Es ist eine schlimme Niederlage, hässlich, die schlimmste überhaupt, aber diese Gruppe ist auf dem Weg in die Zukunft.» Und das war dann auch seine Kernaussage: «Das Leben geht weiter.»
Prinzipiell eine wunderbar gelassene Haltung, aber man fragt sich doch, ob ein 1:7 vor eigenem Publikum im WM-Halbfinale nicht doch der Anlass wäre, ein paar grundsätzlichere Fragen zu stellen. Beispielsweise die, warum es seit Jahrzehnten keine guten brasilianischen Trainer mehr gibt. Warum die Spieler so schlecht ausgebildet sind. Was der Verband eigentlich mit seinem ganzen Geld macht. Wo das schöne Spiel geblieben ist. Wenn der brasilianische Fussball nach diesem 1:7 nicht seine Probleme angeht, dann ist ihm wohl kaum noch zu helfen.
Er war eben doch nicht auf dem Feld. (Bild: KAI PFAFFENBACH)
Denn letztlich sind vier Gegentore in sechs Minuten nicht nur der Beweis für die Existenz des Irrationalen im Fussball, sondern auch dafür, dass einer Mannschaft das Sicherheitsnetz fehlt, das nur Qualität und Training geben können. Derweil zeigten die Angreifer Hulk, Fred oder Oscar schon beim psychologisch unverdächtigen Stand von 0:0 eine Ballbehandlung, die nicht mal zum Strandkick an der Copacabana reichen sollte. Ohne den verletzten Neymar offenbarte die Seleção ihre ganze Mittelmässigkeit.
Ohne den verletzten Neymar offenbarte die Seleção ihre ganze Mittelmässigkeit.
Nach Scolaris Abgang dauerte es fast eine Stunde, bis sich die ersten Spieler aus der Kabine trauten. Zeit, nicht nur die Tränen zu trocknen, sondern auch das Vokabular des Trainers zu verinnerlichen. Auf so ziemlich jede Frage gab es die gleiche Antwort: «Wir sind schuld», sagte Dante. «Wir sind schuld», sagte Paulinho. «Wir sind schuld», sagte Thiago Silva. Nur David Luiz und Dani Alves machten leichte Andeutungen, dass womöglich Grundsätzlicheres zu tun sei, als auf einen besseren Tag zu warten. «Der Fussball und alles, was um ihn herum ist, muss sich ändern», sagte Alves. Meinte er den notorisch korrupten Verband? Konkreter wollte er nicht werden.
Alves hatte das Glück, das ganze Spiel von der Ersatzbank zu verfolgen, sein Name wird also fehlen, wenn noch in Jahrzehnten die Aufstellung derjenigen heruntergebet wird, die der Nation diese epochale Schande eingebrockt haben. «Diese Niederlage wird uns ein Leben lang begleiten», sagte Stürmer Fred, der im Mineirão davon schon eine Vorahnung bekam, als er nach einer verstümperten Torchance mit wüsten Schmähgesängen bedacht wurde. Schon meldete sich nach Spielschluss die Tochter von Moacir Barbosa zu Wort, dem Unglückstorwart des verlorenen Endspiels der ersten Heim-WM 1950. Ihr Vater, angefeindet bis zu seinem Tod vor 14 Jahren, sei jetzt endgültig zu rehabilitieren: «Er wurde wenigstens Vize-Welmeister.»
Zerschellt an den Erwartungen: Kapitän David Luiz und seine Mannschaft. Immerhin deute er grundsätzliche Kritik an den Verhältnissen im brasilianischen Fussball an. (Bild: DAVID GRAY)
Während Kapitän Thiago Silva verzweifelt versuchte, «das Unerklärliche zu erklären», schrieb die «Folha de Sao Paulo»: «Der brasilianische Fussball ist zu Staub geworden». Wie man sich aus dem wieder zusammensetzen kann, zeigten ironischerweise just die Deutschen nach ihren EM-Debakeln 2000 und 2004. Damals lernten sie, ihren eigenen Mythos zu hinterfragen und Reformen einzuleiten. Ob im WM-Gastgeberland dieselbe Bereitschaft zu drastischen Änderungen besteht? Dafür bräuchte es wohl erst einmal ein neues Fussball-Establishment.
Aus dem bisherigen beschwichtigte Pelé: «Ich sage immer: Der Fussball ist eine Wundertüte. Niemand hat dieses Resultat erwartet. Wir werden die ‹Hexa› (den sechsten WM-Titel, d. Red.) nun eben in Russland angehen.» Derweil fordert Ronaldo sofortige Wiedergutmachung am Samstag: «Brasilien hat jetzt die Pflicht, den dritten Platz zu erreichen.» Die Seleção mag gerade am Druck der Erwartungen zerschellt und krachend gedemütigt worden sein, aber die nächsten Siege sind schon fest eingeplant. Dass sie dafür einfach zu schlecht sein könnte: der Gedanke ist manchen immer noch neu.