Ungenügend. Dieses Zeugnis stellt ihm Boris Becker aus, nachdem er seinen ehemaligen Schützling Novak Djokovic in Paris sang- und klanglos an Dominic Thiem scheitern sah. Aber wo war eigentlich sein neuer Mentor, Andre Agassi?
Boris Becker hat immer noch ein Herz für Novak Djokovic. Drei Jahre lang war er der Cheftrainer des einst weltbesten Tennisprofis. Als Duo «Beckovic» eroberten sie gemeinsam die schönsten Trophäen, meisterten die grössten Herausforderungen. Dort, wo die beiden im vergangenen Jahr die vielleicht ultimative Prüfung mit Auszeichnung bestanden hatten, im Stadion Roland Garros zu Paris, sah Becker nun konsterniert aus seiner Kommentatoren-Kabine herab auf Djokovic.
«Es tut weh. Es ist kein schönes Bild hier», sagte Becker über seinen ehemaligen Schützling. «Er wehrt sich ja gar nicht mehr gegen die Niederlage.»
Kurze Zeit später ist Titelverteidiger Djokovic sang- und klanglos mit 6:7, 3:6 und 0:6 gegen den jungen Österreicher Dominic Thiem ausgeschieden. Und Becker legte nach: «Jetzt muss ganz schnell etwas passieren. Novak muss sich komplett neu aufstellen.»
Kein Wille erkennbar
Vom Stolz, von der Klasse und von der Dominanz, mit der Djokovic noch vor zwölf Monaten seinen Sport geprägt hatte, ist an diesem zweiten Turnier-Mittwoch an den French Open wahrlich nichts mehr übrig geblieben.
Oft hatte der 30-jährige Belgrader in seiner Ausnahme-Karriere schon verloren geglaubte Partien noch umbiegen können – mit einem Hauch Magie und ganz viel leidenschaftlichem Einsatz. Doch was die Zuschauer beim Duell mit Herausforderer Thiem in der Schlussphase erlebten, war schlichtweg ein Trauerspiel, ein brutaler Niedergang. Erstmals seit zwölf Jahren verlor Djokovic sogar wieder einen Satz zu Null.
«Ich liebe diesen Sport, ich bin immer noch motiviert. Ich will gut spielen»
Die Höchststrafe war allerdings auch kein Wunder. Die Lethargie und innere Kapitulationshaltung des Vorjahres-Champions war unübersehbar. Herausforderer Thiem kanns egal sein: «Ich bin mit einer 0:5-Bilanz in das Match gegangen. Da ist es natürlich ein Traum, jetzt hier gewonnen zu haben», sagte der kantige, bullige Fighter, «am Ende hatte ich den Eindruck, dass ich seinen Willen gebrochen hatte.»
Es sei kein Geheimnis, gab Djokovic selbst später zu Protokoll, dass er im Moment nicht sein bestes Tennis spiele. «Jeder weiss das doch.» Ob er nun eine Auszeit vom Tennis nehme? «Ich denke über viele Dinge im Moment nach», so Djokovic, «aber ich habe auch meine Verpflichtungen.»
Die alten Gefährten sind weg
Viel war in den letzten Tagen und Wochen über die Zusammenarbeit von Djokovic mit Altmeister Andre Agassi geschrieben worden. Über die Möglichkeiten und Perspektiven dieser aussergewöhnlichen Zweierbeziehung. Doch alle salbungsvollen Worte des Amerikaners, sein Verständnis für Djokovics Lage, seine Analyse sportlicher Defizite – was kann dies helfen, wenn Agassi in der Stunde der Bewährung nicht an der Seite Djokovics steht, so wie in diesem wegweisenden French Open-Duell?
Als Djokovic in die Tennisschlacht gegen Thiem zog, sass sein Bruder als Betreuer und Berater auf der Tribüne – aber kein Agassi und schon gar nicht mehr einer aus dem grossen Team, das den 2016 noch weltbesten Spieler zum Titel geführt hatte. Becker gehörte damals dazu, Djokovics langjähriger Coach Marija Vajda, auch der Österreicher Gebhard Gritsch, Fitness- und Ernährungsexperte. Alle waren gegangen oder waren entlassen worden in den vergangenen Monaten, und obwohl Agassi nun für ein paar Tage in Paris war, wirkte Djokovic doch zuletzt einsam, verlassen und allein.
Djokovic hatte im Vorfeld der French Open durchaus wieder etwas mehr Vertrauen in sich selbst gefasst. In Rom schlug er Top-Konkurrenz wie den Spanier Bautista-Agut, den Argentinier del Potro und auch Thiem (im Halbfinale), bevor er gegen Alexander Zverev das Endspiel verlor. Doch in Paris zeigte sich, auf welch fragilem Terrain sich der Serbe noch immer bewegt.
Kein Titel verteidigt
Die Souveränität und Selbstsicherheit der ersten Turnierrunden waren schnell weggewischt, als sich Thiem zu ganzer Wucht und Pracht in diesem Viertelfinale entfaltete. «Novak war meist zu defensiv, zu passiv. Er hat nicht die Kraft gehabt, selbst die Regie zu übernehmen», schrieb Becker dem früheren Schützling ins Zeugnis. Note: mangelhaft. Oder sogar ungenügend.
Vor einem Jahr noch hatte Djokovic nach seinem damaligen Paris-Triumph für kurze Zeit alle Grand-Slam-Titel in seiner Hand. Ein einmaliges Kunststück in der modernen Tennisgeschichte. Keinen der Pokale konnte er verteidigen. Nur einmal, bei den letzten vier Majors, kam er ins Halbfinale.
Nach dem schmucklosen Abschied gegen Thiem wird er auf Platz 3 der Rangliste rutschen, hinter Comebacker Rafael Nadal. «Ich liebe diesen Sport, ich bin immer noch motiviert. Ich will gut spielen», sagte Djokovic am Mittwoch. Doch auch er selbst würde lieber Taten sehen – statt aller guten Worte.