Stimmung kommt in Rio eigentlich nur dann auf, wenn brasilianische Athleten antreten. Ansonsten herrscht in den Stadien gähnende Leere.
Rio de Janeiro. Plötzlich sind 3000 Zuschauer da. Wie ein Flashmob fallen sie im vorher unbesetzten Stadion ein und veranstalten einen Lärm wie 30’000, es wird gefeiert, gesungen und die eigene Mannschaft mit einer hysterischen Inbrunst angefeuert. Bei jedem Ballgewinn, bei jedem Angriff, bei jedem Stück Raum. Zweimal sieben Minuten dauert das Spiel der brasilianischen Frauen-Rugbymannschaft gegen Kanada, es endet 0:38. Danach ist die Meute so schnell weg, wie sie gekommen ist.
Die Szene stammt vom ersten Wettkampftag aus dem olympischen Zweitpark in Deodoro – und sie wiederholt sich seitdem praktisch in der Endlosschleife, egal wo gerade gesportelt wird. An der Copacabana und am Rudersee, im Sambódromo oder in Engenho: diese Olympischen Spiele werden in zwei Ausgaben angeboten. Wenn Brasilien beteiligt ist, dann brodelt es in den Hallen, dann ist die Passion zu spüren, die sich alle von dem ersten Weltjugendsportfest in Südamerika versprachen. Wenn nicht, retten allenfalls Top-Acts wie die US-Basketballer oder Olympia-Touristen die Stimmung, vor allem die aus dem Nachbarland Argentinien.
Wie olympisch ist Brasilien? Es hängt alles davon ab.
Ihre Goldmedaille wurde in Rio frenetisch gefeiert: Judoka Rafaela Silva. (Bild: REUTERS/Kai Pfaffenbach)
Am Montag schienen die Spiele kurz auf eine dieser Euphoriewellen zu kommen, die solche Ereignisse manchmal bis zum Ende tragen. Rafaela Silva gewann die Goldmedaille, ein Mädchen, das nicht nur aus Brasilien kommt und nicht nur aus Rio, sondern aus der nur wenige Kilometer vom Wettkampfort entfernt gelegenen «Cidade de Deus», der «Stadt Gottes», die in Wahrheit eine Stadt der Hölle ist. In der Favela platzten die Leute vor Stolz und machten ihre Judogriffe nach. Wenige Stunden später wurden schon wieder die üblichen Schiessereien registriert.
Dennoch hat Rafaela Silvas Triumph eine wichtige Debatte über Integration angeschoben, über den Umgang des Landes mit seinen Armen, über seinen nur verkleisterten Rassismus, über die Zukunft seiner vielen Kinder, die unter der Herrschaft der Drogenbanden aufwachsen. «In den Favelas warten viele Rafaelas, wir müssen sie nur finden wollen», schreibt «O Globo». Sollte diese Debatte den Goldrausch überdauern, sollte daraus sogar Veränderung erwachsen, das wäre das wirklich mal eine olympische Hinterlassenschaft.
Was den Sport insgesamt angeht, muss man nach den bisherigen Eindrücken eher seine Zweifel haben. Inzwischen wird sogar eine Verteilung von Gratiskarten an Schulkinder erwogen, zu deprimierend sind die Bilder von Geisterspielen in leeren Hallen. Und die grösste Blamage könnte sogar noch kommen, denn in der Leichtathletik ist bisher nur der Sonntagabend ausverkauft, wenn Usain Bolt um sein viertes 100-Meter-Gold sprintet. Ansonsten wird sich wohl auch die Königssportart der Spiele an freie Plätze gewöhnen müssen – obwohl Rios Olympiastadion mit knapp 45’000 Zuschauern nicht mal halb so viele fasst wie etwa das Pekinger «Vogelnest» vor acht Jahren.
Ein Anblick, an den man sich in Rio gewöhnen musste. Die olympischen Sommerspiele verkaufen sich derart schlecht, dass sogar erwogen wird, Tickets gratis an Schulklassen abzugeben. (Bild: REUTERS/Fabrizio Bensch)
Es gibt Gründe für den Leerstand: zu teure Tickets, teils zu späte Wettkämpfe (die Schwimmfinals beginnen wegen des US-Fernsehens erst nach 22 Uhr Ortszeit), lange Anfahrten, Staus, umständliche Einlasskontrollen, die praktisch nicht-existente Essensversorgung.
Weniger stört die Zuschauer hingegen bisher die miserable Ausbeute ihres Landes. Die zweitmeisten Athleten aller Teilnehmer – 462 – hatten nach sechs Wettkampftagen erst drei Medaillen gewonnen. Doch für die Brasilianer ist der Umstand wichtiger, dass es überhaupt um einen der Ihren geht. Diese Haltung kann rührende Momente produzieren. Wie Medaillenkandidat Thiago Pereia am Donnerstagabend nach Platz sieben im Schwimmstadion werden einheimische Athleten auch nach Enttäuschungen mit Sprechchören gefeiert. Als der 18-jährige Bogenschütze Marcus Vinicius D’Almeida – Spitzname: «Neymar mit Pfeilen» – am Dienstag schon in der ersten Qualifikationsrunde ausschied, tanzten im Sambódromo trotzdem ein paar hundert Zuschauer wie beim Karneval und sangen ihm zu Ehren die inoffizielle Nationalhymne: Eu sou brasileiro / com muito orgulho / com muito amor. «Ich bin Brasilianer, mit viel Stolz und mit viel Liebe».
Almeidas amerikanischer Gegner Jake Kaminski hingegen erlebte eine Direktheit, wie sie das Publikum hier auch kennzeichnet: er wurde ausgepfiffen, ein Novum im olympischen Bogenschiessen. «Das habe ich in unserem Sport noch nie erlebt», sagte auch die Kanadierin Jen Kish nach derselben Erfahrung im Rugby. Ein paar Tage später kam es beim Tennis sogar zu Fausthieben zwischen einem Brasilianer und einem argentinischen Anhänger von Juan Martin del Potro.
Insofern erfahren die Olympischen Spiele heute wieder einen Stimmungshöhepunkt. Allzu freundlich wird es nicht zugehen. Die südamerikanischen Erzrivalen treffen sich beim Basketball.