Vor dem Saisonstart im alpinen Skizirkus sprach Olympiasiegerin Dominique Gisin, die frisch gebackene Schweizer Sportlerin des Jahres, im TagesWoche-Interview über ihre vielen Verletzungen, über die Kontrolle bei über 100 Kilometern pro Stunde und wie sie sich dabei auf das Unterbewusstsein verlässt.
Dominique Gisin, Sie haben in Sotschi zeitgleich mit Tina Maze Olympisches Gold gewonnen. Wie Lasse Kjus und Hermann Maier an der WM 1999. Die Zeitnehmer kennen den wahren Sieger von damals. Würden Sie auch gerne wissen, ob Sie schneller als Maze waren?
Die Zeitnehmer wissen es in der Tat auch in unserem Fall. Aber ich will es nicht wissen, es ist so gekommen, wie es kommen musste. Als kleines Mädchen war mein erster grosser Traum, den Ovo-Grand-Prix zu gewinnen – zeitgleich mit meiner Freundin. Dieser Traum ging zwar damals nicht in Erfüllung. Aber jetzt ist er doch irgendwie wahr geworden.
Wahr geworden sind auch technische Fortschritte, beispielsweise die Ski. Der Mensch bewegt sich dank dieser Fortschritte mit Geschwindigkeiten, für die sein Körper nicht gebaut ist. Bekämpfen Sie mit Ihrem Sport die Gesetze, die uns die Natur vorgibt?
Das machen wir doch alle. Jeden Tag, wenn wir ins Auto steigen.
Diese Antwort haben wir befürchtet.
(lacht) Man kann es auch anders sehen: Die Natur hat uns die kognitive Möglichkeit gegeben, diese technischen Fortschritte zu machen. Ohne diese Möglichkeiten würden wir uns nicht mit diesen Geschwindigkeiten fortbewegen. Deswegen denke ich nicht, dass die Geschwindigkeit etwas Unnatürliches ist. Kommt dazu, dass der Skisport schon sehr alt ist, genauso wie Velofahren. Das Spiel mit den Kräften hat die Menschen immer fasziniert. Und ich bin einer davon.
Aufzuhören war für Sie also nie eine Option?
Mir geht es im Schnee derart gut. Während der Zeit, als ich nicht Ski fahren konnte, war mein Befinden viel schlimmer. Ich hatte vielleicht weniger Knieschmerzen, aber sonst ging es mir schlechter.
Viele Menschen bewundern Skifahrer wegen ihrer Risikobereitschaft. Können Sie auch Sportler bewundern, die viel weniger Risiko eingehen als Sie?
Bezüglich meiner Bewunderung für andere geht es mir nicht um das Risiko. Keiner von uns fährt Ski, um ein Superheld zu sein, und ich könnte sehr gut auf all die Verletzungen verzichten. Wir fahren so gerne Ski wie Roger Federer Tennis spielt. Hätte ich nur ansatzweise so viel Talent im Tennis wie im Skifahren, dann wäre ich noch so gerne Tennisspielerin geworden. Aber man kann seine Begabungen nicht auswählen. Zurück zur Frage heisst das: Ich bewundere Athleten aus Risikosportarten nicht mehr als andere. Ich bewundere Athleten für ihre Leistungen.
Sie haben vorher gesagt, dass Sie es den Ärzten verdanken, immer wieder gesund geworden zu sein. Sie könnten den Ärzten aber auch vorhalten, dass sie es Ihnen so immer wieder ermöglichten, sich erneut zu verletzen.
Ich glaube nicht. Gerade Dr. Segesser hat grossen Anteil an meinem Weg. Auch, weil er mich einmal zu einem Sportpsychologen geschickt hat. Ich kann mir bei den wenigsten Verletzungen einen Vorwurf machen. Es waren schwere Stürze und ich habe mich nie in einem Training verletzt, also keine «unnötigen Verletzungen» eingefangen. Es gibt Momente, in denen du die Kontrolle abgeben und Vertrauen haben musst. Und es gab Zeiten, in denen ich dieses Vertrauen nicht mehr aufbauen konnte. Das waren keine erfolgreichen Zeiten.
Widerspricht es nicht dem Überlebenswillen eines Menschen, bei diesen Tempi die Kontrolle abzugeben?
Doch, aber das ist mit vielen Dingen so. Ich bin in meinem Leben selten geritten. Aber wenn man sich Pferderennen ansieht, dann muss der Jockey auch einen Teil der Verantwortung dem Pferd überlassen.
Das Pferd ist ein Lebewesen und hat selbst ein Interesse daran, dass nichts passiert. Ein Paar Ski nicht. Ist das vergleichbar?
Es ist trotzdem sehr ähnlich. Das Pferd verfügt auch nicht über ein rationales Denkvermögen.
Das wüssten wir jetzt nicht.
Gut, wir wissen es nicht. Aber letztendlich ist das Gefühl sehr ähnlich. Vielleicht kann man sagen, dass ich einen Teil der Verantwortung meinem Unterbewusstsein abgebe. Das muss man. Denn bei diesem Tempo kann man gar nicht alles kontrollieren. Der Verstand ist nicht dafür gemacht, dass er jede einzelne fünf Zentimeter kleine Welle auf der Skipiste wahrnehmen kann. Beim Tennis ist es auch so, Federer kann auch nicht jede Einzelheit seines Schwungs kontrollieren. Es hat einfach nicht die selben Konsequenzen.
Allen Verletzungen und Gefahren zum Trotz: Die gute Laune, die Zuversicht und die ansteckende Fröhlichkeit hat Gisin nie verloren. (Bild: Alexander Preobrajenski)
Die Konsequenzen sind anders. Würden Sie sagen, dass dies der entscheidende Unterschied ist?
Ja. Meine Mutter sagte einst, dass Skifahren ein wunderbarer Sport wäre, wenn es keine Verletzungen gäbe. Dem stimme ich zu.
Verletzungen gibt es. Sie empfinden das Skifahren also nicht als schönen Sport?
Es ist trotzdem ein schöner Sport. Natürlich kann man es darauf reduzieren, dass wir alles Dumköpfe sind. Aber wenn ich auf die Welt komme und ich Motorräder liebe, vielleicht wie Tom Lüthi, dann sage ich ihm doch auch nicht die ganze Zeit, du bist ein Dummkopf. Das ist nun mal die Aktivität, die ihm am meisten gibt. Ein Künstler, der den ganzen Tag Freude am Zeichnen hat: Ich finde das wunderschön. Man entscheidet eben nur bedingt selber, was im Leben eine Leidenschaft in einem auslöst. Bei mir ist es der Skisport.
Eine Aktivität, mit der Sie ihr Geld verdienen dürfen – und an die Sie ihr Herz verloren haben.
Das ist genial. Mit allen Vor- und Nachteilen. Wenn ich allerdings bei 38 Grad Intervalltraining machen muss, dann finde ich das auch nur bedingt toll. (lacht)
Dominique Gisin, eingehüllt in das kalte Element, das ihr Leben ausmacht. (Bild: Reuters/LEONHARD FOEGER)
Sie haben die Selektionen für die Schweizer Luftwaffe durchlaufen und später die Privatpilotenlizenz gemacht. Bietet das Leben zu wenig, wenn keine Geschwindigkeit im Spiel ist?
(lacht) Nein. Gerade beim Fliegen geht es in erster Linie darum, sicher von A nach B zu kommen. Und es geht um Freiheit. Darum, andere Perspektiven zu entwickeln. Aber klar mag ich die Geschwindigkeit!
Wie fahren Sie eigentlich Auto?
(lacht) Ich fahre anständig. Am Berg bin ich eher zügig unterwegs, da ich sehr viele Kilometer auf Passstrassen abspule.
Und Velo?
Gemütlich. Gerade das Rennrad habe ich nicht so im Griff. Und ich fahre immer mit Helm.
Verfügen Sie über langsame Seiten?
Oh ja, ich lese pro Tag ein bis zwei Stunden, spiele gerne Golf. Übrigens bewundere ich den Golfer Phil Mickelson ebenso sehr wie beispielsweise den Skifahrer Didier Cuche.
Wie habe Sie es mit Müssiggang? Eine Parkbank, eine Stunde ohne Aktivität, nur Sitzen und Schauen?
Das braucht es ab und zu. Ruhe, abschalten, entschleunigen – sich selber finden, sich selbst spüren.
» Die Fahrt, die Dominique Gisins Dasein als Skifahrerin verändert hat.
» Die Fahrt, die das beinahe verhindert hätte.
Dominique Gisin in einem ruhigen Moment nach einem Gespräch, das sich nicht um den Sport drehte, sondern vor allem um den Einsatz des menschlichen Körpers. (Bild: Alexander Preobrajenski)
Der komplette Weltcup-Kalender | |||
Das alpine Weltcup-Programm bis Weihnachten | |||
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29.11. | Lake Louise/Can | Männer | Abfahrt |
29.11. | Aspen/USA | Frauen | Riesenslalom |
30.11. | Aspen | Frauen | Slalom |
30.11. | Lake Louise | Männer | Super-G |
5.12. | Lake Louise | Frauen | Abfahrt |
6.12. | Lake Louise | Frauen | Abfahrt |
6.12. | Beaver Creek/USA | Männer | Super-G |
7.12. | Beaver Creek | Männer | Riesenslalom |
7.12. | Lake Louise | Frauen | Super-G |
13.12. | Courchevel/Fra | Frauen | Riesenslalom |
13.12. | Val d’Isère/Fra | Männer | Riesenslalom |
14.12. | Courchevel/Fra | Frauen | Slalom |
14.12. | Val d’Isère | Männer | Slalom |
19.12. | Gröden/Ita | Männer | Super-G |
20.12. | Val d’Isère | Frauen | Abfahrt |
20.12. | Gröden | Männer | Abfahrt |
21.12. | Val d’Isère | Frauen | Super-G |
21.12. | Alta Badia/Ita | Männer | Riesenslalom |
22.12. | Madonna di Campiglio/Ita | Männer | Slalom |