Das gebeutelte England kann einen neuen Helden brauchen und da kommt er gerade recht: Der Tennistrainer Marcus Willis hat sich nach Wimbledon gespielt und tritt nun gegen Roger Federer an – als Nummer 772 der Weltrangliste.
Auf dem Henman Hill, dem Hügel des Volkes in Wimbledon, starrten Tausende gebannt auf den Leinwandkrimi um den unwahrscheinlichen Helden des Tages. Und prompt verwandelte Marcus Willis auf dem abgelegenen Aussenplatz 17 an einem denkwürdigen Montagabend schon seinen ersten Matchball im Auftaktspiel gegen den Litauer Ricardas Berankis. Ein lautstarker Begeisterungssturm brach sich Bahn wie sonst nur bei Triumphen von Andy Murray oder auch bei Roger Federer.
Willis im Wimbledon-Wunderland – der Erfolgsmoment des 26-jährigen Briten war nicht nur eine der grössten Sensationen in der langen Turniergeschichte in London SW 19, er liefert auch eine traumschöne Wohlfühlstory inmitten von Brexit-Frust und Exit-Ärger bei der EM.
«Das ist mit das Beste, was es seit langer Zeit im Tennis gegeben hat.»
Alles war und ist drin in dieser Geschichte der Nummer 772 der Welt: Herz, Schmerz, Tränen, Enttäuschungen, ein Comeback, eine neue Liebe abseits der Courts – und eine sportliche Auferstehung an einem Ort, der wie kein zweiter die Sehnsüchte jedes Tennisspielers beflügelt. «Es ist nicht in Worte zu fassen, was ich hier erlebe», sagte Willis nach seinem Sieg. Und das dürfte auch für das gelten, was ihm nun bevorsteht: Eine Zweitrunden-Verabredung mit Roger Federer, dem besten Wimbledonspieler dieser Zeit. Selbst der Grand-Slam-Rekordchampion war berührt von der hollywoodreifen Saga rund um Nobody Willis: «Das ist mit das Beste, was es seit langer Zeit im Tennis gegeben hat.»
Ein wenig ungläubig werden sie auch beim Marienberger SC in Köln hinüber nach Wimbledon geschaut haben, wo ihr Regionalligaspieler Willis gerade dabei ist, die Tenniswelt ein bisschen aus den Angeln zu heben. Und nun darf er wie aus dem Nichts eine Legende wie Federer fordern, auf einem der beiden grossen Wimbledon-Plätze, vielleicht sogar auf dem Centre Court. (Die Partie findet voraussichtlich am Mittwoch statt, wann genau, ist noch nicht bekannt, wird aber hier bekanntgegeben.)
Als Dickerchen verspottet
Wie es zu diesem Rendezvous des Schweizers mit einem Mann aus dem Tennis-Erdgeschoss, aus den Niederungen der Branche, gekommen ist, das ist beinahe zu schön, um wahr zu sein: Denn als Willis vor ein paar Monaten eigentlich nach Memphis in die USA übersiedeln wollte, um dort als Trainer zu arbeiten, lernte er nach einem Konzertbesuch die Zahnärztin Jennifer Bate kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick, und es war auch der Beginn von Willis’ zweiter Karriere. «Sie sagte mir: ‹Du bist ein Idiot, wenn du aufhörst als Profi.› Und so habe ich es noch mal versucht.»
Der Weg in den All England Club war indes beschwerlich. Und er begann lange, bevor sich die grosse Tourkarawane überhaupt mit dem Rasenspektakel beschäftigte. Willis musste sich durch ein innerbritisches Ausscheidungsturnier kämpfen, um überhaupt in der Wimbledon-Qualifikation starten zu dürfen. Dort, im wenig glamourösen Trubel von Roehampton, behielt er dann drei Mal eisern die Nerven und löste das Ticket herüber in den noblen Südwesten der englischen Metropole.
«Ich habe vielleicht zum ersten Mal so richtig an mich geglaubt, beflügelt auch durch die Liebe meines Lebens, durch Jennifer», sagt Willis. Früher habe er sich oft «selbst gehasst als Verlierertyp», sei auch verspottet worden als «Dickerchen.» Und nun? «Ich bin mit mir im Reinen», sagt Willis, der immer noch ein paar Pfunde zu viel mit sich schleppt, aber mit feiner Technik und gutem Gespür fürs Rasenspiel in Wimbledon glänzt.
«Ich wollte einmal in meinem Leben in Wimbledon spielen, das war immer mein Traum.»
Marcus Willis
Eigentlich wäre Willis in dieser Woche seinem Brot-und-Butter-Job als Trainer beim Warwick Boat Club nachgegangen. Er trainiert dort Kindergartenkinder, talentierte Einzelschüler oder auch mal ein Grüppchen Hausfrauen, umgerechnet 40 Franken pro Stunde bringt ihm das ein.
Damit sind genau so wenig grosse Sprünge zu machen wie mit den gut 300 Franken, die Willis bei seinem einzigen Start als Teilzeitprofi in dieser Saison verdiente, bei einem Future-Turnier im Januar in Tunesien. Aber die umgerechnet 65’000 Franken, die der 26-Jährige mit seinem allerersten Sieg bei einem ATP- oder Grand Slam-Wettbewerb überhaupt verdiente, sind jetzt nicht das Wichtigste. Immerhin ist er in Wimbledon auch plötzlich Publikumsliebling.
«Ich wollte einmal in meinem Leben in Wimbledon spielen, das war immer mein Traum», sagt Willis. «Und das habe ich jetzt geschafft, als ich fast schon vor dem Scherbenhaufen meiner Karriere stand.» Zur Kür gibts jetzt noch das Spiel gegen Roger Federer obendrauf.