Ein Mann zwischen zwei Welten

Der Laufental-Engadiner Sigi Asprion hat Grosses vor. Mit dem mondänsten aller mondänen Orte: St. Moritz. Und dem gigantischsten aller gigantischen Anlässe: Olym­pia.

Sigi Asprion, Gemeindepräsident von St. Moritz (Bild: Tanja Demarmels)

Der Laufental-Engadiner Sigi Asprion hat Grosses vor. Mit dem mondänsten aller mondänen Orte: St. Moritz. Und dem gigantischsten aller gigantischen Anlässe: Olym­pia.

Es ist schwer vorstellbar, aber auch St. Moritz war einmal ein herziges, kleines Dörfli. Dann kamen die Aristokraten, die Filmstars, die Grossunternehmer, die Dandys und Playboys. Hier verprassen die Reichsten der Reichen ihr Geld, hier lassen sich die Mächtigsten der Mächtigen gehen und die Schönsten der Schönen zelebrieren.

St. Moritz steht für Luxus, für Dekadenz auch. Sigi Asprion (53) hat keine Freude daran. Er, der Bauernbub aus dem Laufental, der heute Präsident von St. Moritz ist, will dem ­Alpen-Monaco ein neues Image verpassen – und nebenbei auch noch die olympische Bewegung revolutionieren. Ein Gespräch über Gigantismus, Klischees und Erbsünden.

Alle Tourismusorte beklagen den starken Franken und – als Folge davon – das Ausbleiben der Gäste. Sie in St. Moritz haben es wahrscheinlich besser: Ihrer Kundschaft wird es egal sein, ob sie nun etwas mehr oder weniger zahlen muss.

Wenn es so einfach wäre! Wir leiden sehr unter dem starken Franken – als grosser Ferienort vielleicht sogar noch mehr als die meisten anderen Destinationen.

Aber die internationale High -Society kommt noch ins Engadin?

Ja, die trifft sich noch immer hier – hauptsächlich über Weihnachten und Neujahr oder dann im Februar. Darum müssten wir vor allem im Sommer wieder zulegen, mit Schweizer und deutschen Gästen. Diese sind weiterhin am wichtigsten für uns.

Wichtig sind sicher auch die ­solventen Italiener. Diese können ihren Reichtum in St. Moritz aber nicht mehr ohne Weiteres zeigen, weil ihnen die Steuerfahnder auf den Fersen sind. Selbst im Engadin würden sie unter Beobachtung der Guardia di Finanza stehen, wie man kürzlich lesen konnte.

In der Krise ist es selbstverständlich, dass auch die Staaten ihre Einnahmen zu optimieren versuchen. So entstand wohl auch dieses Gerücht. Einen konkreten Hinweis darauf, dass italienische Fahnder einzelnen unserer Gäste bis ins Engadin gefolgt sind, gibt es aber nicht. Das wäre auch gar nicht legal, wie unsere Abklärungen bei Bund und Kanton ergeben haben.

Keine solchen Probleme haben Sie mit den Russen …

Sie kommen tatsächlich vermehrt zu uns und sie konsumieren auch ganz gut. Das freut uns natürlich.

Klingt ganz so, als würden all die Geschichten über die ausschweifenden Partys stimmen.

Da wird viel erzählt. Aber ich möchte mal einen hören, der tatsächlich dabei war bei einer solchen Party. Ich persönlich habe sowas noch nie erlebt. Und ich kann auch nicht bestätigen, dass hier schon Hotelzimmer oder ganze Hotelanlagen zerstört worden sind. Das stimmt einfach nicht.

St. Moritz ist auch regelmässig in den Medien, weil hier überdurchschnittlich viel Kokain konsumiert werden soll. Was tun Sie gegen Drogen?

Das ist wieder eine dieser typischen Aussagen über unsere Gemeinde. Dabei läuft das bei uns genau gleich wie in anderen Städten: Es gibt einzelne Leute, die Drogen konsumieren, und die Behörden reagieren darauf mit Prävention und Kontrollen.

Sind Sie unzufrieden mit dem Image Ihrer Gemeinde?

Mich nervt diese Einseitigkeit. Wenn zum Beispiel «Glanz und Gloria» vom Schweizer Fernsehen über uns berichtet, wird immer das Gleiche inszeniert: Pelzmäntel, Cüplis und die angeblich typische Überheblichkeit. Das ist aber nur ein Teil von St. Moritz. Der andere ist ganz normal. Bei uns ist jeder willkommen.

Um das noch bekannter zu machen, wollen St. Moritz und zehn umliegende Gemeinden mehr Geld in die Tourismuswerbung investieren – 16 Millionen anstatt 15 Millionen Franken wie bisher. Viel Geld für ein Projekt, bei dem der Erfolg nur sehr schwer messbar ist.

So denkt vielleicht ein Basler. Wir hier oben haben aber keine Pharma und keine Industrie. Wir haben nur den Tourismus, von dem alle direkt oder indirekt abhängig sind. Darum dürfen wir keinesfalls den Anschluss verpassen. Wir müssen uns neue Märkte erschliessen: China, Indien, Indonesien, Brasilien. Das ist aufwendig und kostet entsprechend.

Wie geht das konkret – St. Moritz so bekannt zu machen, dass möglichst alle Chinesen, Inder und Brasilianer herkommen wollen?

Das geht nur über Märkte und Kontakte. Dabei arbeiten wir eng mit «Schweiz Tourismus» zusammen.

Bestens in Ihr Konzept würde auch Olympia passen?

Absolut.

Olympia – eine milliardenteure Werbeaktion?

Nicht nur, aber auch. Olympia wäre die beste Gelegenheit, der Welt zu zeigen, was St. Moritz und Davos, was der Kanton Graubünden und was die Schweiz alles können. Wie perfekt wir auch einen solchen Gross­anlass über die Bühne bringen. Und was für gute Gastgeber wir sind.

Besonders Letzteres ist um­stritten. Die Österreicher seien viel freundlicher, heisst es immer wieder.

Die Österreicher sind vielleicht etwas aufmerksamer. Ich glaube, wir Schweizer müssten offener werden, ohne plötzlich wie die Österreicher sein zu wollen. Ihr Schmäh passt nicht so zu uns. Wir sind zurückhaltender, distanzierter, was auch geschätzt wird.

Was haben Sie im Hinblick auf Olympia sonst noch zu bieten?

Wir wollen die Spiele wieder in eine andere Richtung bringen, weg von diesem Gigantismus, zurück zu den Ursprüngen in eher kleinere Orte in den Bergen, wo die Infrastruktur bereits vorhanden ist.

Diese Versprechungen gibt es immer vor Spielen: ein wirtschaftlicher Schub, mehr Tourismus auch, aber keine unnötigen Bauten, kurz: Nachhaltigkeit. Und danach stellt sich alles als Irrtum heraus.

Dieses Problem gab es tatsächlich schon häufig in der Geschichte der Olympischen Spiele. Ich selbst war in Vancouver als Zuschauer mit dabei. Dort hat man die schönsten Wälder zusammgeholzt, um neue Strassen zu bauen, die nach den Spielen niemand mehr braucht. Und nach dieser Erfahrung sagte ich mir: Nein, der Asprion will nie im Leben solche Spiele in der Schweiz. Dann wurde ich Gemeindepräsident und wenig später kam vom Bund die Anfrage, ob Olympische Spiele hier denkbar wären. Ich war zuerst sehr kritisch. Jetzt bin ich überzeugt, dass wir wunderschöne Spiele organisieren könnten.

Warum?

Weil wir es eben so ganz anders machen würden. Wir bauen auf der vorhandenen Infrastruktur auf. Im alpinen Bereich ist seit der WM 2003 alles vorhanden. Die Bobbahn ist ebenfalls perfekt, dort findet die WM in diesem Jahr statt. Die neue Skisprungschanze ist sowieso bereits in Planung. Die neue Eishalle in Samedan ist ebenfalls schon seit Längerem angedacht. Und auch für die Eröffnungsfeier gibt es schon eine wunderbare Idee: Das olympische Feuer könnte auf dem zugefrorenen See entfacht werden.

Das Problem ist, dass das Internationale Olympische Komitee mit den Spielen das gleiche Ziel hat wie Sie mit dem Tourismus: neue Märkte erschliessen. Darum finden die nächsten Olympischen Spiele in der russischen Retortenstadt Sotschi und im südkoreanischen Pyeongchang statt. In dieser Reihe hat das gute alte St. Moritz keinen Platz mehr.

Nun kommt der Zeitpunkt, an dem sich das IOC entscheiden muss, ob es bei den Spielen tatsächlich nur noch um Grösse und damit ums Geld gehen soll. Wir bieten endlich eine Alternative: eine vernünftige Olympia. Wenn wir keinen Erfolg haben mit unserer Bewerbung, wird es wahrscheinlich nur noch gigantische Spiele in gigantischen Städten geben. Das wäre schade.

Könnte es nicht auch sein, dass St. Moritz manchmal etwas gar klein denkt, um einen derartigen Grossanlass meistern zu können? Nur schon beim Versuch, sich auf den Bau eines neuen Hallenbades zu verständigen, stritt sich die Gemeinde jahrelang.

Ja gut, aber jetzt haben wir uns für den Bau entschieden. Und unabhängig davon haben wir das meiste für Olympia ja schon. Einzelne Anlagen würden wir nur für die Dauer der Olympiade aufstellen. Aber auch das wäre kein Problem.

Dennoch gibt es auch im Bündnerland einige Vorbehalte gegen eine Kandidatur.

Die Abstimmung im März ist tatsächlich eine grosse Herausforderung. Es muss gelingen, den Menschen verständlich zu machen, dass die Spiele eine grosse Chance für die Region und den Kanton sind. Das schafft Arbeitsplätze und wird unsere Attraktivität erhöhen.

Ist es in Ordnung, dass voraussichtlich nur die Bündner über eine Kandidatur abstimmen können? Immerhin stellt der Bund eine Milliarde Franken für die Organisation in Aussicht.

Das ist der politische Prozess. Auf Bundesebene liegen die Entscheide beim Bundesrat und beim Bundes­parlament.

Glauben Sie, dass sich die Menschen im ganzen Land mit der Bündner Kandidatur identifizieren werden?

Das hängt unter anderem von Ihnen ab, von den Journalisten und ihren Berichten (lacht). Und den Politikern und ihren Stellungnahmen. Ich bin überzeugt, dass sich die ganze Schweiz dank Olympia im besten Licht wird präsentieren können.

Welches Image haben die Bündner Ihrer Meinung nach innerhalb der Schweiz?

Was Sie für Fragen stellen!

Ist doch interessant, was die Schweizer übereinander denken. Die Walliser zum Beispiel haben im Unterland nicht den besten Ruf, weil es bei ihnen zu viel Vetterliwirtschaft gebe, sagt man.

Ich glaube, die Bündner haben da mehr Glück. Sie gelten als etwas stur und eigensinnig vielleicht, aber auch als sympathisch, würde ich sagen.

Und gibts tatsächlich weniger Vetterliwirtschaft im Bündnerland als im Wallis?

In den eineinhalb Jahren als Gemeindepräsident habe ich noch nie einen Hinweis darauf gesehen.

Das mussten Sie ja jetzt sagen.

Ja – weil es so ist.

Sie wurden im Wahlkampf sehr aktiv von den Hoteliers unterstützt. Zudem sollen Sie auch ein Freund der Baubranche sein.

Das Erste ist allgemein bekannt, ich war ja selbst Hotelier. Das Zweite ist mir neu.

Als Spitaldirektor setzten Sie sich für den Bau eines Pflegeheims an einem neuen Standort ein, obwohl ein Projekt am alten Standort günstiger gewesen wäre. Der von Ihnen bevorzugte Standort ist bis heute umstritten.

Das ist eine Frage der Vernunft. Am neuen Standort liesse sich ein gutes Projekt verwirklichen, am alten Ort käme ein Flickwerk heraus.

Sie sind Gemeindepräsident und waren auch Spitaldirektor und Hoteldirektor in St. Moritz. Angefangen haben Sie Ihre Laufbahn aber in Basel – als Koch. Eine erstaunliche Karriere.

Schon speziell, he? (Lacht und überlegt.) Ich bin jedenfalls ein Typ, der immer wieder neue Herausforderungen braucht. Wenn ich die nicht mehr habe, werde ich mühsam.

Wie gross war die Umstellung bei den Wechseln?

Vielleicht gar nicht so gross, wie man meinen könnte. Bei allen Jobs stand die Dienstleistung im Zentrum. Und immer hatte ich mit Menschen zu tun. Ich musste immer verhandeln – im Hotel mit Gästen …

… die auch nicht immer einfach waren, so wie Sie dreinschauen.

Eben. Dann mit dem Personal im Spital. Und nun mit den Politikern und den Bürgern. Diese neue Aufgabe gefällt mir sehr, auch wenn man manchmal etwas gar im Rampenlicht steht. Egal was man macht, ob man nun zum Beispiel ein neues Auto kauft oder in die Ferien geht – alles wird von gewissen Leuten registriert.

Für Ihre Wahlkampfwerbung haben Sie immer mit einem Apfel posiert. Warum?

Ich wollte keine teure Kampagne, weil es sonst geheissen hätte, ich sei nur wegen der Inserateschlacht und damit wegen des Geldes und meiner Beziehungen zu den Hoteliers Gemeindepräsident geworden. Da wollte ich lieber bescheiden sein. Und mich auch so geben – naturverbunden. Darum der Apfel, der auch an meine Herkunft erinnert: Ich bin auf einem Bauernhof in Wahlen aufgewachsen.

Nun steht der Apfel nicht nur für Naturverbundenheit …

… Äpfel sind tatsächlich sehr vielseitig, sie können süss sein – oder sauer.

Ich habe eher an etwas anderes gedacht: an die Versuchung und den Sündenfall. Inwiefern passt auch das zu Ihrer zugebauten Gemeinde?

Manchmal war die Versuchung wohl schon etwas gar gross. Von einem Sündenfall würde ich aber nicht sprechen. Schliesslich muss ja auch nicht unbedingt jede Gemeinde so ein herziges Dörfli sein wie Zuoz. Es muss auch die anderen Orte geben. Oder warum gehen die Leute sonst nach Monte Carlo? Oder eben auch nach St. Moritz?

Einverstanden. Aber welche Versuchungen waren Ihrer Ansicht nach etwas gar gross?

Wir hatten im Engadin das Problem, dass Hotels den Betrieb aufgaben und die Zimmer nach einem Umbau als Zweitwohnungen verkauften. Auf diese Weise gingen in St. Moritz innert einigen Jahren 550 Betten verloren. Dieser Trend musste gestoppt werden, weil wir ja schlecht vom Tourismus leben können, wenn wir keine Betten mehr haben. Das war ein Grund, warum wir im Engadin die Schaffung von Zweitwohnungen schon 2008 kontingentiert haben. Anders als unsere Kollegen etwas mehr im Westen, über die wir vorher gesprochen haben, hätten wir die Zweitwohnungsinitative gar nicht nötig gehabt. Doch nun gilt sie auch bei uns. Sie wird eine weitere Verschärfung bringen – und einen Personalabbau in der Baubranche von 40 bis 50 Prozent der Stellen, befürchte ich.

Aber zumindest St. Moritz ist doch schon weitgehend gebaut.

Das stimmt. Bauland ist nicht mehr viel frei. Dennoch könnte man noch immer sehr viel umbauen, abreissen und neu bauen.

Haben die Einheimischen eigentlich Kontakt zu den vornehmen Gästen aus dem Ausland, die St. Moritz so berühmt gemacht haben?

Das sind eher zwei Welten. Das ist doch überall so. In Basel wird der Novartis-CEO ja auch kaum abends mit dem Büezer ein Bier trinken.

Und Sie als Gemeindepräsident: Gehen Sie mit Gästen wie Ingvar Kamprad oder Ivan Glasenberg auch mal einen trinken?

Man trifft sich höchstens zufällig.

Aber zur Region Basel haben Sie noch Kontakt?

Selbstverständlich. Zu meinen beiden Schwestern und meinen Kollegen, die ich dort habe.

Dann können Sie uns sicher auch sagen, was von den Bemühungen des Standortmarketings Basel zu halten ist, Städtepartnerschaften zu schliessen, um mehr Touristen zu holen?

Na ja. Wir unterhalten schon seit Längerem solche Partnerschaften. Und bei den gegenseitigen Besuchen kann man einiges lernen. Das steht für mich fest. Wie direkt sich das auf den Tourismus auswirkt, kann man sich aber schon fragen.

Welche Marke lässt sich in der Welt besser verkaufen – Basel oder St. Moritz?

Ou, diese Frage ist so heikel, dass ich sie schlecht beantworten kann – gerade Ihnen gegenüber.

Solange Sie nicht sagen, dass auch die Marke Zürich noch besser ist als Basel …

Also gut: St. Moritz ist die beste.

Sigi Asprion
Der St. Moritzer Gemeindepräsident ist im Laufental aufgewachsen, auf einem Bauernhof in Wahlen. Seine Lehre absolvierte er in Basel als Koch im Direktions- und Personalrestaurant der Schweizerischen Kreditanstalt (heute CS), seine weitere Ausbildung in der Hotelfachschule. Vor 30 Jahren kam Sigi Asprion ins Engadin, wo er zuerst als Direktionsassistent in einem Hotel arbeitete. Danach leiteten er und seine Frau während 17 Jahren das Viersternehotel Monopol in St. Moritz, ehe er das Metier wechselte und Direktor des Spitals Samedan wurde. Seit eineinhalb Jahren ist er nun hauptamtlicher Gemeindepräsident von St. Moritz. Zu seinen wichtigsten Aufgaben gehören dabei die Förderung des Tourismus und die Kandidatur für Olympia. ­Wobei er auch von seiner Erfahrung profitieren kann. Schon als Hotelier hat er sich für den Kurverein engagiert. Und auch bei der Organisation von Grossanlässen war er schon mit dabei – unter anderem als Mitglied des OK bei der Ski-WM 2003 in St. Moritz. Heute ist Asprion 53 Jahre alt; er wohnt mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in St. Moritz-Bad.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 12.10.12

Nächster Artikel