Was Guor Marial erlebt hat, sprengt jede Vorstellungskraft und seine Geschichte ist eine der besonderen der Spiele, vielleicht die unglaublichste aller 14’000 Athleten. Einst als Sklave gehalten und von arabischen Nomaden verschleppt, verlor er acht seiner zehn Schwestern und Brüder in einem grausamen Krieg, der über 20 Jahre dauerte. Jetzt startet Guor Marial bei Olympia als staatenloser Marathon-Läufer.
«Dass ich bei Olympia starten kann, ist wie ein Zeichen. Gott zeigt mir den Weg, er hilft anderen durch meine Geschichte», sagte Marial der «Times». Inzwischen lebt der 28-Jährige als anerkannter Flüchtling in Flagstaff/Arizona in den USA.
Marial gehört einer christlichen Minderheit an, was im Südsudan lebensgefährlich war und ist. Seine Jugend war von Krieg und Überfällen geprägt. Als Kind lernte Marial, zu laufen. Es ging dabei nicht um Medaillen und Rekorde. Es ging um sein Leben. Immer wieder wurde sein Dorf überfallen und niedergebrannt, wer es in die Wälder schafften wollte, musste schnell sein und hatte bis zum nächsten Überfall nur seine nackte Haut gerettet. Frauen, Kinder, keiner wurde von den marodierenden Banden, die der muslimischen Bevölkerungsmehrheit angehörten, verschont. Dunkelhäutige Christen wie er zählten nicht viel.
Vier Athleten starten unter der Olympischen Flagge
Guor Marial startet an den Olympischen Spielen offiziell nicht für sein Land, weil der junge Staat Südsudan noch kein Olympisches Komitee hat. Stattdessen ist er unter der Flagge der «Independent Olympic Athletes» am Start, die die Olympischen Ringe auf weissem Grund zeigt. Marial ist dabei nicht alleine. Ausser ihm starten Philipine van Aanholt, Liemarvin Bonevacia und Reginald de Windt von den Niederländische Antillen, die seit Oktober 2010 Teil des Königreiches der Niederlande sind, ebenfalls als unabhängige Athleten. (fra)
Auch in London wird Marial laufen. Mit einem Unterschied. Es geht nicht mehr um sein Leben, es geht um eine Botschaft, die «anderen Hoffnung machen soll». Die, dass etwas gibt, das stärker ist als das Leid, das er und die zwei Millionen Toten, die der Krieg in seiner Heimat forderte, erfahren haben. «Ich habe Laufen gehasst, ich bin nur gelaufen, um mein Leben zu retten», berichtet er.
Mit neun sollte er zu Verwandten in die Hauptstadt Khartoum, seine Eltern dachten, er sei dort sicher. Er schlug sich mit Gelegenheitsjobs bei der Armee durch und wurde er von Nomaden entführt und musste Ziegen hüten. Bei einer Durchsuchung im Haus seines Onkels brach ihm ein Soldat mit dem Gewehrkolben den Kiefer. Nach seiner Flucht hielt ihn ein sudanesischer Offizier im Westen des Sudan als persönlichen Sklaven.
Wieder gelang ihm die Flucht. Dieses Mal konnte er die dunkle Vergangenheit hinter sich lassen. Über Ägypten erreichte er die USA. 2001 erkannten ihn die USA als Flüchtling an. Über eine High-School bekam er ein Stipendium an der Iowa State University und lief für deren Leichtathletik-Team. Er schaffte die Olympianorm im Marathon. Für die USA aber konnte er als Flüchtling nicht starten. Für den Sudan wollte er nicht laufen. «Damit hätte ich meine Leute verraten und all die Toten, die im Krieg für Freiheit und die Hoffnung auf ein besseres Leben sterben mussten», sagt er. Der neu gegründete Südsudan besass kein eigenes olympisches Komitee.
Kaum Chancen auf eine Medaille
Guor Marial hatte wieder Glück. Ein in den USA ansässiger Anwalt britischer Herkunft nahm sich seines Falles an und begann, eine Lobbymaschine in Gang zu setzen. Er besuchte Kongress-Abgeordnete, hohe Beamte der US-Regierung, trug Marials Fall bei den vereinten Nationen vor und fand Unterstützung bei Journalisten, die Druck auf offizielle Stellen ausübten. Der südsudanesische Präsident schrieb Briefe. Knappe drei Wochen vor Olympia reagierte das Internationale Olympische Komitee und garantierte ihm einen Startplatz. Die Regierungen der USA und Grossbritannien lieferten die Visa.
Aus dem Sklaven wurde ein Olympia-Athlet. «Ich war sprachlos», sagte Marial. «Jetzt hat der Südsudan einen Platz auf dieser Welt gefunden. Für uns ist das ein großer Schritt. Seinen Eltern liess er ausrichten, sich am 12. August, wenn er läuft, in einer nahegelegenen Stadt einen Fernseher zu suchen. In seinem Dorf gibt es weder Strom noch Fernseher. Und er selbst musste plötzlich trainieren «wie ein Athlet» und nebenbei seinen Job in einer Behindertenwerkstatt weiter machen. Eine Medaille wird Guor Marial in London nicht gewinnen. Wenn doch, wäre das das nächste Wunder in seiner Geschichte: «Ich bin dabei. Allein das ist wie eine Goldmedaille.»