Die Olympischen Spiele der Neuzeit waren immer widersprüchlich und unvollkommen. Überforderte Funktionäre konnten sich nie dem Einfluss der Weltpolitik entziehen, der Gigantismus ist ungebremst und das Dopingproblem aktueller denn je. Aber desavouiert das wirklich die ganze Idee?
Olympische Spiele haben immer ihre Zeit abgebildet. Man muss sich dafür nur ihre Stars aus der dominanten Sportnation anschauen, den USA. Muhammad Ali oder Bob Beamon standen für gesellschaftliche Revolution und Aufbruch. Carl Lewis oder Michael Jordan für eine lineare, unerschütterliche amerikanische Hegemonie. Der grösste US-Athlet dieser Tage – und erfolgreichste Olympionike aller Zeiten – kommt hingegen aus der Rehabilitation von Alkohol- und Spielsucht nach Rio de Janeiro: Michael Phelps steht für Brüche und Zweifel, für eine Epoche der Unsicherheit.
Terrorismus, Krisen, Korruption – was für ein anmassender Gedanke ist es, zu glauben, das grösste Sportspektakel der Welt könnte sich davon frei machen, und sei es nur für zwei Wochen «olympischen Frieden». Oder gar die Idee, es könnte die Probleme einer Stadt wie Rio und eines Kontinents wie Lateinamerika lösen, die Generationen von Politikern nicht gelöst bekamen.
Ironischerweise hängen solcher Hybris sowohl die «Herren der Ringe» an – auch wenn ihre Heilsversprechen zuletzt aus gutem Grund etwas leiser geworden sind – wie auch ihre Gegner, die in blinder Rage die Bedeutung der Spiele ebenfalls ins Unendliche überhöhen – und sie wohl am liebsten auch noch für das Aussterben der Mammuts verantwortlich machen würden.
Diese und viele andere Ideale hat der Begründer der modernen Spiele, Baron Pierre de Coubertin, einst formuliert. Er hatte viele gute Absichten, er verbot sogar den Medaillenspiegel, weil aus seinem Begegnungsfest kein Wetteifern der Nationen werden sollte. Doch angesichts seiner eigenen Überhöhung des «Olympismus» zur «Religion» dauerte es nicht lange, bis genau das geschah. Das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland erschufen den «Staatsathleten». Die kommunistischen Regimes zogen später nach und setzten mit dem «Kampf der Systeme» (Ostblock gegen den Westen) eine Spirale in Gang, die das Doping wenn nicht erfunden, dann zumindest fundamental begünstigt hat.
Es fehlt nur noch ein olympisches Formel-1-Rennen
Präsident der olympischen Bewegung in schwierigen Zeiten: Der Deutsche Thomas Bach beim Abstecher in die Wohnsilos der Athleten in Rio de Janeiro. (Bild: Reuters/IVAN ALVARADO)
Die weitverbreitete Betrachtung der Spiele als nationale Prestigeangelegenheit hat das Ende der Blockkonfrontation überlebt. Neben Medaillenquoten und subventionierten Athleten fördert ausserdem die Kommerzialisierung die Verlockung zum Betrug – auch dieser Standardvorwurf an das IOC ist ebenso zutreffend, wie er einer historischen Einordnung bedarf. Die Olympier haben lange versucht, das Amateurideal aufrechtzuerhalten, so lange, bis sie dafür als ewiggestrige Aristokraten verspottet wurden. Letztlich mussten sie sich auch in diesem Punkt der Zeit beugen.
Dass die Entwicklung längst ins andere Extrem umgeschlagen ist und nach der Aufnahme von Tennis und Golf eigentlich nur noch ein olympisches Formel-1-Rennen fehlt, um sie satirisch auf die Spitze zu treiben – auch das sei unbenommen. Aber das Beste aus beiden Welten zu vereinen, ist ja nicht nur im Sport eine fast unmögliche Herausforderung.
Olympische Funktionäre im Spiel der Mächtigen: getrieben und oft überfordert.
Letztlich sind die Funktionäre vor allem eines: Getriebene. Und auch wenn sie das nie zugeben: oft überfordert. Wie soll ein IOC-Präsident dem russischen Machthaber Wladimir Putin gewachsen sein, wo das doch die wichtigsten Politiker der Welt nicht hinbekommen? Wie soll ausgerechnet der Sport es schaffen, sich vom Betrug rein zu halten, wo doch überall sonst auch getrickst und gemauschelt wird? Und wie soll er sich verhalten, wenn die Sicherheitslage als so bedrohlich gilt, dass die US-Basketballer in Rio lieber auf einem privaten Schiff logieren als im Olympischen Dorf?
Die Wettkampfstätten gleichen Kasernenhöfen
Das Olympiastadion von Rio de Janeiro. (Bild: Reuters/PAWEL KOPCZYNSKI)
Wenige Tage vor der Eröffnung präsentieren sich Rios Wettkampfstätten wie Kasernenhöfe, mit Soldaten, Checkpoints und Jeeps. Wer hätte nicht lieber Spiele ohne Zäune, einfacher, menschlicher? München hat es 1972 versucht. Es endete im Desaster, der Geiselnahme israelischer Sportler durch palästinensische Terroristen im olympischen Dorf, einem missglückten Polizeieinsatz und elf toten Athleten.
München 1972 ist eine geeignete Fallstudie, um zu verstehen, dass es kein verlorenes Paradies zu entdecken gibt, dass es bei Olympischen Spielen nie eine Zeit der Unschuld gab. Der Historiker David Clay Large berichtet in einem unterhaltsamen Buch zu den Spielen in Bayern nicht nur von angeordnetem Gratisalkoholkonsum im Pressezentrum, um positive Reportagen herbeizuführen. Sondern auch von den gleichen Debatten, die man heute führt, von einem um das Vielfache überzogenen Budget, von Gigantismus, vom Einfluss der (Welt-)Politik. Dass Doping damals noch nicht so stark im Mittelpunkt stand, lag wohl eher an mangelnder Sensibilität als an weniger Betrug. Insofern ist man heute sogar eher weiter.
Es gibt auch positive Hinterlassenschaften
München ist auf der anderen Seite auch ein Beispiel dafür, dass es städtebaulich sehr wohl eine positive Hinterlassenschaft der Spiele geben kann. Die Architektur des Olympiaparks und die damals errichteten Nahverkehrstrassen prägen die Stadt bis heute. Barcelona schaffte es 1992 sogar, die Olympia-Investitionen für eine Neuerfindung seiner selbst und den Aufstieg unter die Starmetropolen zu nutzen. London belebte vor vier Jahren immerhin ein brachliegendes Viertel neu.
Rio de Janeiro wird sicher beeindruckende Bilder produzieren, aber hinter den Kulissen eine der schwächeren Ausgaben bleiben. In vier, acht oder zwölf Jahren wird es anderswo vielleicht umgekehrt sein. Olympische Spiele: ein bisschen weiss, ein bisschen schwarz, und doch immer wieder auch inspirierend. Machen sie die Welt zu einem besseren Ort? Womöglich nicht. Aber zu einem schlechteren wohl auch nicht.
__
» Rio 2016 – die offizielle Webseite
» Wann, was wo – der Zeitplan der Sommerspiele
» Die Schweiz bei Olympia 2016
Postkartenkitsch mit dem Cristo Redentor, der monumentale Christusstatue auf dem Berg Corcovado über Rio de Janeiro. (Bild: Reuters/WOLFGANG RATTAY)