England hat gegen Italien verloren. Doch die Briten haben bei diesem ersten Spiel eine neue Schnelligkeit und Risikofreude gezeigt. Das ist mehr Erfolg als der vergebene Sieg.
«Du versuchst alles und bekommst nichts dafür – es ist ist brutal auf diesem Niveau», sagte Steven Gerrard. Der englische Kapitän sieht schon an erfolgreichen Tagen oft so aus, als müsse er das (Fußball-)Leid einer ganzen Nation schultern; am Sonntagabend war der Frust ob der vergeblichen Anstrengungen am Amazonas besonders schwer zu ertragen. Gerrard zuckte ein wenig gequält, als ihn jemand nach den «jungen Löwen» fragte, die Roy Hodgson auf Italien «losgelassen» hatte, doch dann fiel dem 34-Jährigen ein, dass im Vereinigten Königreich nicht nur das Ergebnis zählt.
An ungenügende Vorführungen gegen die Spitzenteams hat man sich seit dem Gewinn der Weltmeisterschaft 1966 gewöhnt, entscheidend ist mittlerweile die Art der Niederlage. In Manaus verschönerte jugendliches Draufgängertum, taktische Courage und Kampfesmut das 1:2, so konnte man am Ende einer kraftraubenden Schlacht doch recht mit sich zufrieden sein. «Wir haben gedrückt, gedrückt, gedrückt», sagte Gerrard, «wir haben alles gegeben und es gut gemacht».
Weg vom Defensivfussball
Roy Hodgson hatte sogar «das beste Spiel» der Mannschaft seiner Amtszeit gesehen. Der 66-Jährige hat den «impossible job», wie der Posten im Boulevard genannt wird, im Mai 2012 übernommen. In der Europameisterschaft ließ er England einen gut organisierten aber unansehnlichen Defensivfußball vorführen, ein paar Monate vor WM-Beginn hat der polyglotte Fußballlehrer jedoch die Freude am Risiko entdeckt. Jüngere Spieler wie Raheem Sterling (19, Liverpool), der gegen die Azzurri einer der wirksamsten Waffen im zentralen offensiven Mittelfeld war, sollen England voran bringen. Wenn es sein muss, auch auf Kosten der Ergebnisse. Die englische Öffentlichkeit goutiert den Strategiewechsel ausdrücklich: man sieht England lieber aufregend-glorreich scheitern als ein staubtrockenes 0:0 ermauern, wie im letzten Duell der beiden Länder in Kiew (EM-Viertelfinale 2012, Aus im Elfmeterschießen).
«Mein Gefühl sagt mir, dass wir heute viele Dinge richtig gemacht haben», sagte Hodgson. Viele englische Beobachter teilten diese Einschätzung. Sein Team bekam für den Versuch, die clever mit ihren Kräften haushaltenden Italiener mit schnellen Angriffen und eines hoch postierten Angriffsquartetts zu überwältigen, sehr gute Kritiken, auch wenn haarsträubende Abwehrfehler und eine leichte Abschlussschwäche («im letzten Drittel müssen wir besser sein, aber ich will auf niemand mit dem Finger zeigen», sagte Gerrard vorsichtig) die Fortschritte konterkarierten. «Es kann sein, dass England vorzeitig aus dieser wunderbaren WM-Party geschmissen wird aber immerhin lassen sie es darauf ankommen», frohlockte das fußballerische Leitmedium, der Daily Telegraph, «sie spielen mit einem Elan, den die vergangenen, sterilen Turniere vermissen ließ. England hat verloren, aber Freunde gewonnen.»
Rennen trot tropischer Hitze
Cesare Prandelli war einer davon. Der italienische Nationaltrainer lobte den Gegner als «eine der besten Mannschaften der WM» und beklagte, nicht so «explosive, schnelle Spieler» wie Sterling, Danny Welbeck oder den Torschützen des 1:1, Daniel Sturridge, in den eigenen Reihen zu haben. Die Briten waren mit ihrem hohem Tempo gefährlich, erwiesen sich aber letztlich als dankbarer, freundlicher Gegner, weil sie ihr Spiel nicht den aberwitzigen Bedingungen im Urwald anpassen konnten. «Das Match war sehr schnell», sagte Hodgson, «ich habe kein Anzeichen dafür gesehen, dass das Spiel in einer Geschwindigkeit gespielt wurde, die der Hitze angemessen war.»
Genau das war das Problem. Hodgsons Elf stürmte, durch die offensive Ausrichtung zum Angriff gezwungen , so lange, bis Sterling und Co. mit Krämpfen am Boden lagen, während die individuell keineswegs besser besetzten, aber vom überragenden Andrea Pirlo genial dirigierten Italiener den Ball hielten und für jede Torchance mehrere Minuten Anlauf nahmen.
Noch ist nichts verloren. Gegen Uruguay und Costa Rica zu gewinnen, sollte für Hodgsons Mannschaft trotz der Defizite im Spiel ohne Ball möglich sein. «Wir sind ein junges Team und wir werden besser werden», versprach der Trainer. Er nahm bei der Gelegenheit Wayne Rooney in Schutz («es wäre sehr ungerecht, ihn zu kritisieren»), wusste aber auch, dass die Debatte um Englands vermeintlichen Heilsbringer in den nächsten Tagen noch stärker aufkommen wird. Der zunächst links postierte 28-Jährige bereitete zwar das 1:1 mit einer feinfühligen Flanke vor, hatte aber große Probleme, die Abwehr zu unterstützen. Hodgson kann das Problem in den nächsten beiden Partien mit einer Umstellung lösen. Der Trainer selbst steht nach der Auftaktniederlage kurioserweise so stark wie nie zuvor da. Er hat England tief im Dschungel zu sich selbst geführt. Mehr will man von ihm nicht.