Nach 89 Minuten und 45 Sekunden schoss Ersatzmann Haris Seferovic das Siegestor der Schweiz gegen Zypern. Danach geht sie mit vier Punkten Vorsprung in die letzten vier Runden der WM-Ausscheidung.
180 Minuten gegen Zypern, die Nummer 122 der Weltrangliste – man konnte es sich kaum vorstellen. Aber es war im Stade de Genève die 180. Minute angebrochen, als das Rückspiel der Schweiz gegen die Mittelmeer-Fussballer noch immer 0:0 stand – so, wie im März der erste Match in Nikosia am Ende. Es drohte die nächste Enttäuschung. Es drohte die ernüchternde Feststellung, die Schweiz habe die grosse Chance, sich von der Gegnerschaft abzusetzen, erneut nicht genutzt – und das nach den vorteilhaften Ergebnissen von Albanern, Isländern und Norwegern tags zuvor.
Aber als dann drei Viertel dieser regulär letzten Minute abgelaufen waren, lag der Ball doch noch im Tor der Zyprioten. Haris Seferovic hatte ihn in einem Angriffszug zusammen mit Stephan Lichtsteiner und Xherdan Shaqiri nach vorne getrieben; dann setzte er zu einem entschlossenen Spurt an und rief dem ballbesitzenden Shaqiri zu: «Shaqiri, Shaqiri.» Der kleine Champions-League-Sieger, dem in diesem Match nicht so viel gelungen war wie an guten Tagen, erkannte die Chance und brachte die technische Fertigkeit auf, mit perfektem Timing einen Steilpass zu spielen. Den nahm Seferovic auf, ehe er den Ball über den herausgestürzten zypriotischen Torhüter lupfte.
Für Seferovic geht’s «bergauf»
Es war – im zweiten Teileinsatz – sein erstes Tor für die A-Nationalmannschaft. Und es war, wie er wenig später sagte, eines von der Bedeutung wie er bisher in seiner allerdings noch jungen Karriere erst eines geschossen hatte: Das Siegestor der U17-Auswahl im WM-Final 2009 gegen Gastgeber Nigeria. Es sei, sagte der 21-jährige Profi aus Sursee noch, aber auch der Beweis gewesen, «dass es mit meiner Karriere wieder bergauf geht.» Dazu führte er auch an, dass er mit zehn Toren in 18 Spielen, wie er sie als Leihspieler für Novara geschossen habe, doch «ein gutes halbes Jahr» hinter sich habe, denn auch die Serie B sei «eine gute Liga.» Wo es für ihn weitergeht, ob bei «Besitzerin» Fiorentina, weiss er noch nicht. Auf jeden Fall soll es «in der Serie A sein.»
Was dieses Tor Seferovics an Jubel auslöste, liess seine Bedeutung erkennen. Ein 1:0 gegen Zypern mag bei nüchternem Blick auf die internationale Hierarchie, aber auch auf die Tabelle der Schweizer WM-Gruppe ein karges Resultat sein. Es liesse einen sagen, der hohe Favorit habe gegen den krassen Aussenseiter seine Pflicht mit dem absoluten Minimum erfüllt. Aber die Dramaturgie legt eine andere Deutung nahe: Dieses Tor war eine Befreiung, eine Erlösung – und es dürfte, sollte die Schweiz den Weg nach Brasilien erfolreich beendet haben, in den Analysen eine wichtige Rolle spielen.
Geschichte der späten Tore
In der jüngeren Vergangenheit der «Nati» gibt es wenige Tore dieser Art – so spät und so wichtig. Einigermassen vergleichbar war im Herbst 2009 das Kopftor des Verteidigers Stéphane Grichting zum 1:0 in der 83. Minute im Spitzenspiel gegen Griechenland im St. Jakob-Park auf dem Weg nach Südafrika; ähnlich war im März 2005 das 1:0 Alex Freis in der 88. Minute im Hardturm in der Ausscheidung zur WM 2006 gegen … Zypern; und dasselbe wie diesmal war Kubilay Türkyilmaz’ Sturmlauf zum 3:2 in der letzten Minute des EM-Ausscheidungsspiels im Mai 1991 in Bulgarien. Jener Match ist in besonderer Erinnerung, weil die Schweiz bei Halbzeit 0:2 zurück lag und Adrian Knup erst in der 85. Minute ausgeglichen hatte. Allerdings: Die EM-Endrunde 1992 lief dann doch ohne die Schweiz ab.
Ein besonderer Abend in Genf
Nun feierten 16 900 Zuschauer die Schweizer minutenlang, als hätten sie schon Bedeutendes gewonnen. Aber im Stadion hatte man das Gefühl, Besonderes erlebt zu haben – und niemand wird in diesem Moment gedacht haben, es sei falsch gewesen, dieses Spiel nach Genf zu vergeben. Dieser Eindruck war überhaupt falsch, die Mannschaft wurde auf ihrem teils wirklich zähen Weg gut, sehr gut unterstützt, keinesfalls schlechter als anderswo. Und wenn Ersatzcoach Michel Pont hinterher das Ereignis als «Sieg des Teamspirits» wertete, wird er – zu Recht – daran gedacht haben, wie die ganze Ersatzbank reagierte – geradezu elektrisiert.
Pont hatte mit Seferovic in der 73. Minute anstelle Josip Drmics auch den Matchwinner eingewechselt; er hatte nach 67 Minuten Valon Behrami durch Blerim Dzemaili ersetzt und in der 77. Minute Tranquillo Barnetta für Valentin Stocker aufs Feld geschickt. Am Ende stimmte das Resultat, und es halfen alle drei eingewechselten Spieler, vor allem auch Barnetta. Es war überdies begreiflich, dass Pont Behrami – und nicht den an diesem Tag schwächeren Gökhan Inler – ersetzte, weil Inler nach einer neuerlichen Verwarnung fürs nächste Heimspiel gegen Island gesperrt ist. Und Behrami sollte deshalb, ebenfalls bereits verwarnt, nicht eine Rote Karte und ebenfalls eine Sperre riskieren. Anstelle Drmics hätte Pont aber gescheiter dessen entkräfteten Kollegen Mario Gavranovic ausgewechselt, und vor allem hätte sich als Tausch für Barnetta so gut wie jeder andere eher angeboten als Stocker, der 77 Minuten lang bester Schweizer gewesen war.
Die Mauer der Zyprioten
Pont trat immerhin nicht ab als Assistenztrainer, der seinen gesperrten Chef Ottmar Hitzfeld mit zwei 0:0 gegen Zypern vertreten hat. Spielerisch hatte die Mannschaft keinen schlechten Match geboten und sich, wie schon in Nikosia, im Prinzip ausreichend Gelegenheiten herausgespielt, jenes eine Tor früher zu erzielen, das ihre Aufgabe entscheidend erleichtert hätte. So aber konnten die Zyprioten wieder massiert verteidigen, was sie aufopferungsvoll und nicht schlecht machten; so konnten sie aber auch bis 15 Sekunden vor Ende der regulären Spielzeit durchziehen, was sie seit der ersten Minute geboten hatten: Das Spiel bei jeder Gelegenheit zu verschleppen, jede Chance zu nutzen, geradezu exzessiv auf Zeit zu spielen.
Unglücklicher Tag für Inler
Was zu den Einzelleistungen der Schweizer zu sagen ist: Die Abwehr liess fast nichts zu – bis zu anderthalb Chancen der Zyprioten in der Endphase. Aber Stephan Lichtsteiner bot doch eines seiner schwächsten Länderspiele, in der Gegend des gegnerischen Strafraums glückte ihm kein einziges gutes Zuspiel. Im Mittelfeld war Stocker eindeutig der beste, Shaqiri immerhin zu einer wichtigen Tat fähig. Inler allerdings, nach Warnung Hitzfelds wie erwartet Dzemaili vorgezogen, hatte einen unglücklichen Tag mit (zu) vielen Unsauberkeiten im Zuspiel. Die beiden FCZ-Stürmer waren nicht schlecht. Aber weder Gavranovic, der früh mit dem Kopf den Pfosten traf, noch Drmic, der nach einer halben Stunde vom Fünfereck das Tor nicht fand, werteten ihre Leistung mit einem Treffer auf.
Dafür brauchte es dann Seferovic, der in der Tat eine Talentprobe lieferte. Am Ende stand ein Sieg, «der mit seiner Entstehung in der Entwicklung dieser Mannschaft eine wichtige Rolle spielen kann», sagte Pont nach dem Spiel. Wichtig aber ist vor allem, dass die Schweiz nun mit vier Längen Vorsprung ins letzte Halbjahr der Ausscheidung geht und als nächstes Island mit einem Heimsieg am 6. September in Bern aus der Konkurrenz werfen kann.
Schweiz – Zypern 1:0 (0:0)
Stade de Genève, 16’200 Zuschauer.
SR Mazzoleni (It).
Tor: 90. Seferovic (Shaqiri)
Schweiz: Benaglio; Lichtsteiner, Djourou, Von Bergen, Rodriguez; Shaqiri, Behrami (67. Dzemaili), Inler, Stocker (77. Barnetta); Gavranovic, Drmic (73. Seferovic).
Zypern: Giorgallidis; Theofilou (93. Dobrasinovic), Merkis, Charalampous, Charalambous; Nikolaou, Laban-Bounayre, Alexandrou; Aloneftis (62. Kyriacou), Makridis; Sotiriou.
Bemerkungen: Schweiz ohne Derdiyok und Schwegler (beide rekonvaleszent), Zypern ohne Charalambidis (Taufe der Kinder) und Christofi (Hochzeit) sowie Dossa Junior und Efrem (beide verletzt).
Schweizer Ersatzspieler: Sommer, Wölfli, Ziegler, Senderos, Xhaka, Emeghara, Klose. 8. Kopfball von Gavranovic an den Pfosten.
Verwarnungen: 13. Angelis Charalampous (Foul). 20. Sotiriou (Foul). 33. Makridis (Foul). 45. Inler (Foul/im nächsten Spiel gesperrt). 67. Charalambous (Foul).