Auf dem Papier ist Manchester United immer noch stark genug, aber momentan durchaus schlagbar – zu diesem Urteil kommt Raphael Honigstein vor dem Gastspiel des englischen Rekordmeisters in Basel (Mittwoch, 20.45 Uhr). Seit 1993 verfolgt der Journalist und Publizist Honigstein den englischen Fussball für deutsche und englische Medien.
Normalerweise würde man in England erwarten, dass United sich mit seiner Erfahrung und Klasse gegen den Schweizer Meister durchsetzt. Doch die wenig begeisternde Form in den vergangenen Wochen lässt Raum für Zweifel. Seit der 1:6-Schlappe im Derby gegen Manchester City konnte United in der Liga nie mehr als ein Tor erzielen, in der Defensive zeigte man beim 2:2 gegen Benfica wiederholt Schwächen in der Defensive. Es läuft, auch wegen vielen verletzungsbedingten Umstellungen, nicht rund bei den Roten.
Eine Analyse der einzelnen Mannschaftsteile:
Tor
Ferguson betrieb in der Champions League bisher eine interessante Rotationspolitik: in Auswärtsspielen bekam der Däne Anders Lindegaard, 27, stets den Vorzug vor dem sechs Jahre jüngeren Spanier David De Gea. De Gea, die angestammte Nummer 1, pausierte allerdings auch beim glanzlosen 1:0-Auswärtssieg gegen Aston Villa, was den Verdacht nahelegt, dass der 19-Millionen-Pfund-Mann von Atletico Madrid gegen Basel zum Einsatz kommt. Der ständige Wechsel wurde intern damit begründet, dass De Gea Zeit bekommen soll, sich an die andere Spielweise in der Premier League zu gewöhnen; wirklich überzeugend ist dieses Argument jedoch nicht. De Gea mag der Mann der Zukunft sein, aber unter dem Strich hat United nach dem Karriereende von Edwin van der Sar zwischen den Pfosten Qualität verloren.
Abwehr
Uniteds heimliches Prunkstück bot seit dem Debakel im Derby überwiegend solide Leistungen, das 2:2 gegen Benfica und die B-Elf-1:2-Niederlage im Ligapokal gegen Zweitligist Crystal Palace ausgenommen. Das Hauptproblem ist personeller Natur: Nemanja Vidic und Rio Ferdinand konnten wegen Verletzungen noch kein einziges Mal in der Champions League zusammen auflaufen und bestritten in der Liga auch nur vier Spiele gemeinsam. Das erfahrene Duo steht allerdings am Mittwoch zur Verfügung. Links wird der kämpferische Franzose Patrice Evra auflaufen, rechts wahrscheinlich das Multitalent Phil Jones, 19, oder Chris Smalling, 22. Beide sind gelernte Innenverteidiger, denen ab und an noch der eine oder andere Stellungsfehler unterläuft. Insgesamt kann sich Ferguson aber auf seine «Back Four» verlassen – falls der etwas in die Jahre gekommene Rio Ferdinand bei Standardsituation nicht die Konzentration verliert.
Mittelfeld
Die Zentrale ist Uniteds Problemzone. Michael Carrick, der beste Mann auf der Spielmacherposition, fehlt gesperrt. Der beim starken Saisonauftakt so überzeugende Tom Cleverley, 22, fehlt ebenso verletzt wie Brasilianer Anderson, 23. In seiner Not musste Ferguson in den vergangenen Wochen sogar Wayne Rooney im Mittelfeld aufbieten, was weder dem Stürmer noch Uniteds Spiel wirklich gut tat. Falls Ferguson nicht vom gewohnten 4-4-2 abkehrt, dürften der rein defensiv denkende Darren Fletcher und der in dieser Spielzeit äusserst spärlich eingesetzte Routinier Ryan Giggs die «Doppel Sechs» bekleiden: Spielwitz und Dynamik sehen anders aus. United vertraut in der gegnerischen Hälfte ganz auf die Aussen – Nani und Ashley Young oder Antonio Valencia. Der Portugiese Nani, 25, traf zuletzt am 24. September (1:1 gegen Stoke), auch Nationalspieler Young steckte in den vergangenen zwei Monaten in einem kleinen Leistungsloch. Valencia konnte nach seinem Knöchelbruch vor 15 Monaten noch nicht an seine alte Leistung anknüpfen.
Angriff
Dieser Mannschaftsteil stellt sich am Mittwoch von selbst auf: Rooney und Jungnationalspieler Danny Welbeck, 21, sind die einzig verfügbaren Angreifer. Javier Hernández, Dimitar Berbatow und Michael Owen fallen allesamt verletzt aus. Rooney kann auf seiner Lieblingsposition als hängende Spitze spielen, mit dem laufstarken Welbeck vor ihm kann United wahlweise pressen oder auf Konter spielen. Für den Superstar der am Donnerstagmorgen bei der Uefa wegen seiner Euro-Sperre vorspricht, könnte es schwierig werden, die richtige Einstellung zu finden – ohne Wut im Bauch, glauben englische Beobachter, kommt er nicht auf Touren.
Fazit
Es gab schon schlechtere Zeitpunkte, um gegen United anzutreten. Die Engländer sind auf dem Papier zwar allemal stark genug, um den nötigen, einen Punkt mitzunehmen, aber nach den letzten Leistungen zu urteilen durchaus schlagbar.