Falkenaugen oder Chips

Einmal nicht gut genug hingeschaut bei Ukraine gegen England, und schon hat auch die Euro 2012 ihr Toranerkennungsproblem und steht das Experiment mit den Torrichtern auf tönernen Füssen. Uefa-Präsident Platini ist gegen Technik im Fussball, Fifa-Chef Blatter dagegen gibt Gas.

Drin oder nicht drin? Die Fernsehbilder liessen keinen Zweifel, dass John Terry den Ball erst hinter der Linie erwischt hat. (Bild: Keystone/LINDSEY PARNABY)

Einmal nicht gut genug hingeschaut bei Ukraine gegen England, und schon hat auch die Euro 2012 ihr Toranerkennungsproblem und steht das Experiment mit den Torrichtern auf tönernen Füssen. Uefa-Präsident Platini ist gegen Technik im Fussball, Fifa-Chef Blatter dagegen gibt Gas.

Es sind seltsame Szenen, die sich da Morgen für Morgen im kleinen Agrykola Stadion von Warschau abspielen. Als seien sie die 17. Mannschaft dieses Europameisterschaftsturniers treffen sich hier die Schiedsrichter zur gemeinsamen Übungseinheit. Angeleitet von Fitnesstrainern arbeiten sie an ihrer Physis, üben Abseitsentscheidungen, und manchmal steht eine Sondereinheit für die «zusätzlichen Schiedsrichterassistenten» auf dem Programm. So wie am Mittwoch, als die so genannten Torrichter kurz hinter der Linie geklärte Schüsse bewerten mussten.

Szenen also wie jene aus dem Spiel der Ukraine gegen England, die Oleg Blochin zur Weisglut getrieben hat. «Sie haben uns ein Tor gestohlen», hat der ukrainische Trainer gezürnt, «die Schiedsrichter sind schuld, das war ein ganz klares Tor!» Und Pierluigi Collina, der bei dieser EM für die Unparteiischen zuständige Uefa-Funktionär bestätigte diese Einschätzung tags darauf. Dem Torrichter in Donezk war ein fataler Fehler passiert, er hatte nicht erkannt, dass der Ball im Tor gewesen war. Die Empörung in der Ukraine ist so gross wie verständlich.

Collinas Lobrede auf die Assistenten

Collina hielt am Mittwoch in der polnischen Hauptstadt dennoch eine lange Lobrede auf das Uefa-Experiment mit den zusätzlichen Assistenten, das seit drei Jahren in der Champions League, seit zwei Spielzeiten in der Europa-League und nun auch bei der Euro läuft. «In rund tausend Spielen hatten wir nur diesen einen Fehler», referierte der ehemalige Schiedsrichter von Weltklasse. Doch diese eine Szene könnte dem Versuchslauf ein baldiges Ende setzen. Denn gegen den Willen der Uefa ist der Weltverband kurz davor, eine Überwachung der Torlinie mit technischen Hilfsmitteln einzuführen.

Der fatale Fehler von Donezk stärkt den Fifa-Präsidenten Josef Blatter in seinen Plänen. «Nach dem Spiel von gestern Abend ist Torlinientechnik nicht mehr nur eine Möglichkeit, sondern eine Notwendigkeit», twitterte Blatter am Mittwoch, es war eine Botschaft mit schadenfrohem Unterton. Dabei hielt auch Blatter technische Hilfsmittel viele Jahre für ein Werk des Teufels. Erst seit der peinlichen Fehlentscheidung im Achtelfinal der Engländer gegen Deutschland an der WM 2010 versucht sich der wenig beliebte Fifa-Präsident, mit seinem Votum für die Technik als Reformer zu profilieren.

Platini mit dem Rücken zur Wand

Michel Platini, der bis zum Dienstagabend dachte, mit seinen Torrichtern, die bessere Lösung zu haben, weiss das natürlich. Vor einigen Tagen sagte der Uefa-Präsident gegenüber Journalisten noch: Blatter werde «die Technologie einführen, aber ich glaube, das ist ein grosser Fehler, denn es wird erst der Anfang sein». Platini fürchtet, dass bald auch Fouls oder Abseitsentscheidungen technisch aufgelöst werden.

Doch diese Argumentation ist schwer nachvollziehbar. Denn das International Football Association Board (IFAB), das über jede Regeländerung entscheidet, ist eine durch und durch konservative Institution. Die Befürworter der Torlinientechnologie haben zehn Jahre lang vergeblich versucht, ihre Innovation durchzubringen, erst die weltweite Empörung nach dem nicht gewerteten WM-Tor vor zwei Jahren führte zum Einlenken.

Kehrtwende der Fifa und von Blatter

Zuvor, im März 2010, hatte das IFAB, dem neben Vertretern aus Wales, Nordirland, Schotland und England auch vier Fifa-Vertreter  – unter anderem Blatter selbst – angehören, sogar entschieden, dass die Torlinientechnik niemals eingeführt werde. Das sei eine endgültige Entscheidung, hiess es, alle weiteren Forschungen wurden beendet. Die Vertreter aus England und Schottland hatten damals für den Chip im Ball votiert, Blatter und seine Fifa waren genau wie Platini strikt dagegen.

Dann kam die WM 2010 und statt nach Uefa-Vorbild Torrichter einzuführen, beauftragte der Weltverband die schweizerische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt EMPA die Torlinientechnologien von insgesamt acht Unternehmen zu begutachten. Zwei Techniken überstanden diese erste Testphase: das kamerabasierte Hawk-Eye, das seit Jahren im Tennis eingesetzt wird, und ein Chip-im-Ball, der vom Fraunhofer-Institut für integrierte Schaltungen im fränkischen Erlangen entwickelt wurde.

Sondersitzung am 5. Juli in Zürich

Am 5. Juli trifft sich das IFAB nun in Zürich zu einer Sondersitzung, die EMPA legt ihren Abschlussbericht vor, und auf der Grundlage dieser Ergebnisse wird abgestimmt, welche Technik eingeführt wird. Der Weg wäre also frei, zumindest, wenn eines der beiden Systeme störungsfrei funktioniert. Gemunkelt wird, dass die Hawk-Eye-Technik bessere Chancen habe, weil das Unternehmen vor einiger Zeit von Sony, einem der wichtigsten Fifa-Sponsoren übernommen wurde. Allerdings bleibt bei der Überwachung der Torlinie mit Kamera immer die Gefahr, dass der Ball im entscheidenden Moment von einem Körper verdeckt wird.

Der Chip hat dieses Problem nicht, aber selbst wenn nach Einführung der Technik ein Rest Ungewissheit bliebe, die Anzahl der Fehlentscheidungen würde sich drastisch reduzieren.

Artikelgeschichte

Mitteilung des Fraunhoffer-Instituts in Erlangen/D vom 5. März 2012

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