Er könnte am Australian Open mit seinem insgesamt 18. Grand-Slam-Titel eine weitere Rekordmarke aufstellen. Aber die Aufgabe, die sich Roger Federer in Melbourne stellt, wäre auch Herkules gut angestanden.
Vor viereinhalb Jahren Jahren hatte Yen-Hsun Lu seinen Moment des globalen Ruhms. Damals gewann der junge Taiwanese auf den grünen Feldern Wimbledons in einem spektakulären Achtelfinal-Match über fünf Sätze gegen den Mitfavoriten Andy Roddick und amüsierte anschliessend die Weltpresse mit Anekdoten aus seinem bisherigen Leben.
Roger Federer bestreitet seine erste Partie am Montag um 9 Uhr Mitteleuropäischer Zeit (SRF 2 live). Bereits Um 1 Uhr Morgens unserer Zeit spielt Belinda Bencic. Sie trifft auf die Deutsche Julia Görges. Zwei Stunden später ist Stefanie Vögele gegen Pauline Parmentier (Fra) im Einsatz.
Stanislas Wawrinka hat seinen ersten Auftritt erst am Dienstag, der Titelverteidiger wird vom Türken Marsel Ilhan geprüft. Ebenfalls am Dienstag spielen Timea Bacsinszky und Romina Oprandi.
SRF überträgt ausgewählte Spiele der Schweizer Vertreter live. Eurosport ist jeweils ab 1 Uhr Schweizer Zeit live in Melbourne dabei.
Die Livescores der laufenden Partien finden Sie auf der offiziellen Website des Turniers.
Unvergessen, wie Lu über seine Erlebnisse auf der elterlichen Hühnerfarm berichtete, nicht zuletzt über die Kunst des richtigen Timings, das Geflügel zum bestmöglichen Zeitpunkt einzufangen. Morgens nämlich, am besten von ein bis sechs Uhr, da sähen die Hühner schliesslich nicht, «wenn man sie fangen will». Der Gestank auf so einer Hühnerfarm allerdings sei «unglaublich», gab Lu seinerzeit zu: «Deshalb habe ich mich auch lieber im Tennis krumm gemacht.»
Wenn am Montag nun die Offenen Australischen Meisterschaften des Jahres 2015 beginnen, werden wieder einmal weltweit Blicke auf Lu gerichtet sein, den Mann, dem man seit den Wimbledontagen 2010 auch den «Hühnerfänger» nennt.
Auf Federer wartet Schwerstarbeit
Diese Aufmerksamkeit hat allerdings nicht mit einer sagenhaften Vermehrung der eigenen Popularität zu tun, sondern mit seinem prominenten Gegner: Keinem anderen als Roger Federer steht Lu in der Auftaktrunde des Australian Open gegenüber, dem ersten grossen Saisonhöhepunkt der soeben erst eröffneten Spielzeit.
Zwei Mal sind sich Federer und Lu über die gemeinsamen Jahre bereits auf dem Court begegnet, beide Male gewann Federer souverän – im vergangenen Juni, bei den Gerry Weber Open in Halle, konnte Lu wegen einer Verletzung nicht zum Viertelfinal antreten.
Bilanz hin und her: Lu, der drahtige, quirlige, wendige Konterkünstler, fügt sich als Erstrundengegner in ein keineswegs erfreuliches Gesamtbild für Federer. Denn auf dem Weg zu einem möglichen weiteren Rekord, dem 18. Grand-Slam-Titel seiner Karriere, hätte der 33-jährige Baselbieter Schwerstarbeit zu erledigen; eigentlich durchgängig von der ersten bis zur letzten, erhofften siebten Runde.
Die Sinne dürften von Anfang an geschärft sein
Beispiel gefällig? In der zweiten Turnierwoche würden theoretisch ab dem Achtelfinal Ivo Karlovic (Nummer 27 der Welt), Andy Murray (6), Rafael Nadal (3) und dann noch Novak Djokovic (1) warten. Und alle Gegner vorher sind auch nicht das, was man als Laufkundschaft im Tourbetrieb bezeichnen würde, auch nicht den Italiener Bolelli oder den Argentinier Monaco, von denen einer in Runde zwei warten würde.
«Das ist ein Herkules-Job für Roger», sagt der einstige schwedische Weltklasse-Mann Mats Wilander, «aber eins ist auch klar: Seine Sinne werden vom ersten Ball an total geschärft sein.»
Federer hat es sich sowieso angewöhnt, nicht lange über Auslosungen und Aussichten zu spekulieren und das zu tun, was er seit mehr als einem Jahrzehnt ununterbrochen auch bei Grand Slams tut: Das jeweils Naheliegende ins Auge zu fassen, das nächste Match, den nächsten Gegner. Und sonst nichts.
«Alles andere wäre Kraft- und Energievergeudung», sagt Federer, der Mann, der sich am vergangenen Sonntag mit seinem 1000. Karriere-Erfolg aufs Neue in die Geschichtsbücher seines Sports eingetragen hatte.
Der Körper meldet sich
Jener Sieg hatte den Schweizer allerdings auch ungewohnt deutlich seinen Körper spüren lassen. So trat er dann auch erst einmal nach jenem Titelgewinn von Brisbane aufs Bremspedal, entspannte kurz und intensiv, schnaufte durch – und begann dann mit dem Countdown fürs Australian Open.
«Die Strapazen zum Ende des Jahres 2014, dann auch noch der Davis Cup, das alles merke ich schon», sagt Federer, «die ganze Saisonpause dauerte bei mir nur gut eine Woche. Aber ich bin trotzdem gut gerüstet für Melbourne.» Nach dem Turnier werde er eine ausgedehnte Auszeit nehmen und wohl erst Ende Februar bei den Dubai Tennis Championships in den Tennisbetrieb zurückkehren.
Wie selbstverständlich unter den Favoriten
Doch nun dreht sich zunächst alles um den Grand-Slam-Kampf Down Under und die erste von vier Chancen in diesem Jahr, eine weitere Major-Trophäe in seinen Besitz zu bringen. Federer ist inzwischen wieder wie selbstverständlich einer der Mitfavoriten, Lohn und Verdienst seiner starken Comeback-Saison 2014 auf regelmässig höchstem Niveau.
Er ist auch mit seinen 33 Jahren noch immer einer jener Männer, die es zu schlagen gilt im Kampf um höchste Tennisehren. Der erste, der es in Melbourne versucht, ist der Hühnerfänger aus Taiwan.