Noch einmal schlafen bis zur Partie des FC Basel gegen den Chelsea FC. In der Serie «unser täglich Chelsea» beschreibt unser Mann in London die Rückkehr eines einst gefürchteten Stürmers, der zwischendurch sogar von seinen Gegnern bemitleidet wurde: Fernando Torres scheint zurück im Geschäft zu sein.
Ein Liebling der Massen wird Rafael Benítez in den letzten vier Wochen seiner Amtszeit in West-London nicht mehr werden. Unabhängig vom Erfolg in der Europa League und in der heimischen Liga – Chelsea ist momentan Vierter in der Tabelle – ist dem Spanier allerdings schon ein immenses Kunststück geglückt, das keinem seiner illustren Vorgänger vergönnt war: Unter seiner Anleitung trifft Problemstürmer Fernando Torres plötzlich wieder.
20 Tore hat der 29-Jährige in der laufenden Saison geschossen, 13 davon, seit Benítez im November den Posten an der Stamford Bridge kommissarisch übernommen hat. 2011/12 war der Mann, der wegen seiner weichen Gesichtszüge «El Nino», der Junge gerufen wird, nur elf Mal erfolgreich gewesen, in seinen ersten sechs Monaten nach seinem 50-Millionen-Pfund–Wechsel vom FC Liverpool im Januar 2011 hatte er einen mickrigen Treffer erzielt.
Obwohl der damalige Trainer Carlo Ancelotti die mannschaftsdienliche Spielweise des Neuen lobte («Er bewegt sich sehr gut, er muss keine Tore schiessen»), blieb Torres so rätselhaft anonym, dass er die Beobachter bereits an das nicht minder mysteriöse Schicksal von Andreij Schewtschenko erinnerten. Der Ukrainer war im Sommer 2006 als Weltklassemann und Lieblingsspieler von Clubbesitzer Roman Abramowitsch für 45 Millionen Euro verpflichtet worden, fand aber in drei Jahren an der Stamford Bridge weder sich noch seine Form.
Er konnte Lauf- und Passwege nicht mehr lesen
Torres schien, im Gegenteil, an der Themse von einer rätselhaften Art von Fussball-Legasthenie befallen: Er konnte Lauf- und Passwege einfach nicht mehr lesen. Jeder Sprint wurde zum Irrweg, jede Ballannahme zum Risiko. Angst und Schrecken beim Gegner vor seiner immensen Antrittsschnelligkeit und dem eiskalten Finish vor dem Tor wichen zuerst Spott, dann sogar Mitleid. Er verlor seinen Stammplatz im Ensemble von Spaniens Nationalcoach Vicente del Bosque. «Es werden Spieler aufgestellt, die in ihren Vereinen gut spielen», sagte Del Bosque streng.
«Ich bin sicher, dass die besten Jahre in der Premier League noch vor mir liegen», meinte Torres kurz vor dem Champions-League-Final 2012 in München. Solche Parolen gegen innere und äussere Zweifel hört man normalerweise von Profis jenseits der 30, nicht von 27-Jährigen.
Nach dem eigenen Empfinden aber läuft ihm die Zeit weg, das zeigten schon die Umstände seines Transfers von der Anfield Road nach London 2011. «Liverpool hat mehr Geschichte, Chelsea mehr Möglichkeiten», fasste er den Entscheidungsprozess damals zusammen. Er wollte nicht warten, bis die neuen amerikanischen Eigentümer den Traditionsclub von der Mersey wieder konkurrenzfähig machten, er wollte sofort zu einem «grossen Verein», sofort zurück in die Champions League.
Das Klagen nach dem Gewinn der Champions League
«Nando», wie sie ihn in englischen Kabinen rufen, wollte vor allem nicht länger der erfolgloseste Welt- und Europameister in der Geschichte des Fussballs sein. In München gewann er als Einwechselspieler die Champions League, war aber immer noch nicht glücklich. Wenige Minuten nach dem Schlusspfiff stellte Torres seinen Rollkoffer vor die Allianz Arena und klagte einem spanischen Kollegen sein Leid über das Reservistendasein: «Das war das schlimmste Jahr meiner Karriere, so etwas will ich nie wieder erleben.» Didier Drogba hatte ihn unter Interimstrainer Roberto Di Matteo aus der Startelf verdrängt.
Seit dem Abschied des Ivorers im Sommer kann er etwas befreiter aufspielen. In der Europa League ist er als einzig spielberechtigter Mittelstürmer sowieso gesetzt – Kollege Demba Ba ist in der Hinrunde schon für Newcastle United im selben Wettbewerb zum Einsatz gekommen.
Allmählich macht sich Benítez’ Vertrauen bezahlbar. Der Trainer erzählte diese Woche, dass er dem Spieler ein spezielles Programm für Muskelwachstum und Schnelligkeit verschrieben hat. «Man sieht, dass er stärker und schneller ist», sagte Benítez, der schon in seiner Zeit beim FC Liverpool Torres mit ähnlichen Methoden präpariert hatte.
War das die Wende?
Torres erklärte vor dem Match in Basel seine Schwierigkeiten mit den stetig wechselnden Formationen und taktischen Ausrichtungen der Elf unter den vielen Übungsleitern. «Man muss sich dem neuen System, dem neuen Stil und den neuen Spielern anpassen», sagte er Uefa.com, «in meinem Fall hat das vielleicht länger gedauert, als es sollte. Aber nach zwei Spielzeiten kann man sehen, wie sehr sich die Mannschaft seit meiner Ankunft verändert hat.»
Bisher haben sich die Chelsea-Fans erstaunlich geduldig mit ihm gezeigt. Will Torres im nächsten Jahr immer noch erste Wahl im Sturm bei den Blues sein, muss er aber nun beweisen, dass der jüngste Aufwärtstrend eine echte Wende hin zum guten, alten Torres bedeutet.