Diesen Abend geht es los in Paris mit dem Eröffnungsspiel der Euro 2016. Wir haben uns dem Austragungsland Frankreich sanft angenähert.
Zehn Tage vor dem Spektakel. Annecy, einen Steinwurf von Genf entfernt und eine gefühlte Ewigkeit von den Epizentren des Turniers. Die Euro 2016? N’existe pas. Keine Spur, nirgendwo. Nicht in Savoyen, wo auf den Gipfeln noch der Schnee liegt. Nicht mal ein Pappuntersetzer im Bistro mit einem Symbol der grossen Fussballmesse.
Weiter in den Süden. Zum Tanken irgendwo hinter Grenoble runter von der Autobahn. Nicht nur in der Schweiz, auch in Frankreich sind Autobahntankstellen moderne Wegelagerei. Aber dann tatsächlich: Nebenan, an einer schmucklosen Gebäudefassade, wirbt eine Haushaltsgeräte-Kette übermannsgross mit abstrakten Fussballsymbolen. Von der «Euro» jedoch keine Rede. Wer der Uefa keine Lizenzrechte abgekauft hat, muss sich behelfen.
Schliesslich: die Camargue. Arles, wo sich zwischen antiker Arena und Theater kunst- und geschichtsbeflissene Touristen tummeln, die so gar nichts mit Fussball am Sonnenhut haben. Vor einem Café immerhin ein Smalltalk zweier Männer: Einer im Trikot von Bayern München, der andere trägt Real Madrid. Über ihnen ein scheues Banner: die Euro! Und am Kiosk: «France Football» mit einer Sonderedition.
Die Bibel des Fussballs und eine Strassencafé-Szenerie aus Arles eine Woche vor dem EM-Start. (Bild: Christoph Kieslich)
Heimweg. Zwischenstation Lyon. EM-Austragungsort. Saône und Rhône bis zum Betonrand gefüllt. Dazwischen geniesst der Lyoneser die sonntagabendliche Sonne, während aus dem unter Wasser gesetzten Nordwesten schon die nächste Gewitterfront heranzieht. In den Gassen der Altstadt ein Fest, eine Band, und ein einsames Plakat wirbt für eine Ausstellung in den Musées Gadagne: Göttlicher Fussball.
Vorbei am Place Bellecour. Die offizielle Fanzone. Einer dieser sterilen Orte, bei denen man sofort ahnt, wo man diese Euro nicht anschauen möchte. Arbeiter zimmern die letzten Gestelle zusammen. Sicherheitskräfte weit und breit keine. Dafür ungezählte Absperrgitter und Fluchtkorridore. Schon um die Ecke, in der Rue d’Amboise, spielt der Fussball keine Rolle mehr. Im Café-Restaurant Terroir sind Lemmy und Jean-François die begnadeten Spielmacher in Küche und Keller.
Nach den Ferien in Frankreich ist vor der Dienstreise nach Frankreich. Und Frankreich streikt. Arras ist das Ziel, ein malerischer Ort, der weniger Einwohner hat als Lörrach, dafür umso mehr Geschichte. Ein paar Regionalzugminuten nebenan liegt Lens. Ein ganz und gar unmalerischer Ort. Früher Steinkohlebergbau, heute immerhin mit Ableger des Louvre. Und natürlich «Les Sang et Or», der örtliche Racing Club Lens, der im schönsten EM-Stadion daheim ist. Im nach englischem Vorbild erhaltenen Stade Bollaert-Delelis. Hier spielt die Schweiz am Samstag gegen Albanien.
Die Airbnb-Butze bei Jean-Baptiste, einem ebenso freundlichen wie unkomplizierten Gastgeber, ist bezogen. Wäre ja auch noch schöner gewesen, den Wucher mitzumachen. Im Hotel Metropole am Bahnhofsvorplatz nehmen sie für das 99-Euro-Zimmer jetzt 289. Der Event rückt näher. In den Endlosschleifen des Fernsehens besteht die französische Welt aus «la grève» und «les bleus». Der Streik und die Nationalmannschaft.
Streiks nehmen die Franzosen, so sie nicht Politiker sind, gelassener als unsereins, der gar nicht mehr weiss, wie Streik geht. Und hierzulande erwartet man von einer 23-Mann-Auswahl auch nicht, was die Franzosen ihr auf die Schultern laden: «Geschichte wiederholen», titelt an diesem Freitag «L’Equipe».
Weil am Donnerstag der 12:34-Uhr-Zug ab Basel SBB dem Streik zum Opfer gefallen ist, haben wir eben den nächsten «train à grande vitesse» genommen. Der erreicht Paris tatsächlich. Der Bahnhofwechsel vom Gare de Lyon zum Gare du Nord dauert gefühlt fast so lange wie die Fahrt von Basel. In den Strassen stapelt sich der Müll. La grève. Schon eine knappe Stunde weiter nördlich in Arras ist davon nichts mehr zu merken. Oder gehört das auch zum Streik, wenn die Cafés am Rathausplatz schon nachmittags um vier gefüllt sind?
Der Streik in Frankreich und seine Auswirkungen. Bilder vom Gare de Lyon und aus den Strassen von Paris, wo jetzt auch die Müllabfuhr die Arbeit teilweise niedergelegt hat (Bild: Reuters)
Freitagmorgen. Lens. Das Bahnhofsgebäude erhält einen neuen Anstrich, was das Entrée in die ehemalige Arbeiterstadt allerdings auch nicht rausreisst. Die offizielle Fanzone am Rathaus? Zum Vergessen. Dafür ein fesselnder Blick die Hauptstrasse hinunter auf die in der Sonne glänzende Stahldach-Konstruktion des Stadions.
Die Dinge in der knapp 40’000 Einwohner zählenden Kleinstadt nehmen ihren gemächlichen Lauf an diesem Freitagvormittag. Ein paar Einheimische tragen bereits das Tenu des Tages und die Farben auf der Backe. Albanische Schlachtenbummler sind auch schon da, und am Café Le Renitas hängt seit 11.15 Uhr eine Schweizer Flagge. Es kann jetzt eigentlich losgehen.