Statistisch gesehen ist die Chance Spaniens zum zweiten Mal in Folge Fussball-Weltmeister zu werden, einigermassen klein. Unmöglich ist die Mission von Xavi & Co., als erstes Team seit 50 Jahren den WM-Titel zu verteidigen, nun auch wieder nicht.
Während seiner goldenen Ära hat es sich Spanien angewöhnt, dem Glamour aus dem Weg zu gehen, was die Mannschaftsquartiere betrifft. Neustift (Österreich, 2008), Potchefstroom (Südafrika, 2010) und Gniewino (Polen, 2012) haben es als Herbergen des Ruhms trotzdem in die nationale Fussball-Mythologie gebracht, auf sie folgt nun das Trainingscenter Caju vor den Toren des südbrasilianischen WM-Spielorts Curitiba. Allein sieben Fussballplätze gibt es in der Sportstadt des Spitzenklubs Atlético Paranaense. Weissen Sand und Kokospalmen wird man hingegen umsonst suchen. In den vergangenen Wochen regnete es so viel, dass Alarmbereitschaft wegen Überschwemmungsgefahr ausgerufen wurde. Spanien hat vorsichtshalber erst mal nur für die Gruppenphase gebucht.
So manche Experten und Historiker erwarten danach allerdings nicht den Umzug in ein anderes Quartier, sondern den Heimflug nach Madrid. Seit Brasilien 1962 hat kein Land einen WM-Titel verteidigt, zuletzt wurde sich mit Vorliebe blamiert: Frankreich kam 2002 ebenso wenig über die Vorrunde hinaus wie Italien 2010, Brasilien rumpelte 2006 nur unter Schmerzen für alle Beteiligten unter die letzten Acht. In Zahlen nicht greifbar, aber nicht weniger wirkungsmächtig ist ausserdem eine Art Wechselstimmung in der globalen Fussball-Gemeinde: die Sehnsucht nach dem Neuen, nach dem Fall eines Imperiums.
Fachleute beissen sich auf die Zunge
Vor der EM 2012 in Polen und der Ukraine war das nicht viel anders, das Ende ist bekannt: Spanien gewann seinen dritten grossen Titel in Folge. Warum die internationalen Wettbüros die «selección» dieser Tage dennoch nur auf Platz vier ansiedeln, warum Fachleute lieber auf Belgien setzen, wenn sie originell sein wollen, oder sich gleich auf die Zunge beissen, nur um nicht Spanien sagen zu müssen, ist wohl nur mit ein bisschen Wunschdenken zu erklären. Dem spanischen Fussball-Zeitalter just nach einer Saison den Untergang zu prophezeien, in der seine Klubs den Europapokal dominierten wie nie eine Nation zuvor, wäre unter normalen Umständen jedenfalls eine These mit exorbitant hoher Gewinnquote.
Die zugrunde liegende Annahme allerdings ist ebenso simpel wie schwer von der Hand zu weisen: Das Weltmeisterteam von 2010, mit 16 Spielern im 23er-Kader vertreten, ist vier Jahre älter geworden. Es hat vor einem Jahr das Finale im Confed Cup mit 0:3 gegen Brasilien verloren und die Gesetze des Fussballs sagen, dass es satt sein müsste. Nationaltrainer Vicente del Bosque selbst alimentierte diese Bedenken vor einigen Wochen mit dem Satz, in den Augen der Spieler sehe er nicht mehr denselben Blick wie vor vier Jahren. Ein kleiner Weckruf, sich bloss nicht auf vergangenen Meriten auszuruhen.
Innehalten vor der letzten Schlacht
Im Vorbereitungslager in Washington sassen Xavi und Iker Casillas eines Vormittags schon lange vor Trainingsbeginn nebeneinander auf der Bank und unterhielten sich. Spielmacher des FC Barcelona der eine, Torhüter von Real Madrid der andere, aber Weggefährten bereits seit der gemeinsam gewonnen Junioren-WM 1999 und später das doppelte Herz der grössten Ära des spanischen Fussballs. Der Plausch wirkte wie ein poetisches Innehalten vor der letzten Schlacht, die das Turnier für viele aus ihrer Generation bedeuten wird. Spaniens Rekordtorschütze David Villa beispielsweise beendete danach seine Karriere in Europa und wechselt zum neuen Klub New York City. Aber welche Nation hätte ihn nicht trotzdem gern dabei? Beim letzten Test in Washington gegen El Salvador erzielte er beide Tore.
Einen ähnlichen Kader wie Spanien kann niemand aufbieten, Weltklasse von der Nummer eins bis zur Nummer 23. Villa ist einer von vier Abgesandten von Meister und Champions-League-Finalist Atlético Madrid. Dazu kommen drei Akteure von Endspielbezwinger Real Madrid, der Rest spielt bei Champions-League-Klubs in England, Italien und Deutschland (Javi Martínez) oder, das grösste Kontingent von sieben Spielern, beim FC Barcelona. Die Kritiker setzen hier an, denn Barcelona hat dieses Jahr nichts gewonnen. Sechs der sieben haben unter dem unglücklichen Mandat des inzwischen abgetretenen Trainers Gerardo Martino dennoch eine ordentliche Saison gespielt, nur bei einem war wirklich so etwas wie ein leichter Abfall festzustellen. Es ist der wichtigste Mann Spaniens, Xavi.
Zweifel am wichtigsten Mann
Alle potenziellen Zweifel lassen sich also letztlich auf den Spielmacher runterbrechen, den, um den Spanien in all den Jahren kreiselte. Ist Xavi gut drauf, kann Spanien nichts passieren, lautet eine geflügelte Weisheit im Weltmeisterland. Dass ihm Del Bosque den Taktstock entziehen könnte, gilt fürs erste als sehr unwahrscheinlich. Dass er im Mittelfeld notfalls über luxuriöse Alternativen verfügt, als offenkundig. In den Testspielen hat sich der Trainer nicht in die Karten schauen lassen und munter durchgemischt. «Auf ein, zwei Positionen bin ich noch nicht ganz sicher», sagt er vor dem Auftakt in Salvador gegen Holland.
Weil er kein Mann der markigen Worte ist, neigen manche immer noch dazu, den einzigen Trainer mit Triumphen in WM, EM und Champions League zu unterschätzen. Wer in ihm einen sturen Tiki-Taka-Ideologen sieht, arbeitet vielleicht im Wettbüro, hat sich aber mit dem gewieften Pragmatiker sonst noch nicht grossartig beschäftigt. Niemand weiss besser als der 63-jährige Veteran, dass auch der erfolgreiche Spielstil seiner Elf immer neue Varianten braucht. Del Bosque hat deshalb früh um die Zusage des Hispano-Brasilianers Diego Costa gekämpft, er hat trotz dessen Blessur auf seiner Nominierung bestanden und er ist auch bereit, dafür verstärkte Anfeindungen einer indignierten Gastgebernation und die periodischen Attacken von deren Trainer Luiz Felipe Scolari in Kauf zu nehmen.
Warum das so ist, liess sich beim Test gegen El Salvador in ausgesuchten Phasen gut beobachten. Da operierten die Spanier plötzlich mit langen Bällen und schnellen Vertikalangriffen, immer auf der Suche nach dem Mittelstürmer, der vor einem Wechsel von Atlético zu Chelsea steht. Oft wurden diese Angriffe eingeleitet von seinem jungen Vereinskollegen Koke, der als Xavis erster Ersatz gilt und dem Del Bosque noch den unverbrauchten Blick zugute hält, der sich bei den Champions notgedrungen verändert hat. Oder von den Real-Profis Sergio Ramos und Xabi Alonso. Die direktere Spielweise wirkte insgesamt noch nicht so elegant oder erfolgreich wie das traditionelle Kurzpassspiel, aber an den Vorteilen einer zweiten Partitur zweifelt kaum jemand. Spanien, bisher so stark mit dem FC Barcelona assoziiert, wird mit diesen Kontervarianten von Atlético oder Real ein Stück weit madrilenischer – vor allem aber soll es unberechenbarer werden.
Van Gaals Anti-Tiki-Taka-Plan
Gleich im ersten Spiel könnte damit beispielsweise der Anti-Tiki-Taka-Plan von Spanien-Kenner Louis van Gaal ausgehebelt werden, der seine Niederländer eigens für dieses Match eine ungewohnte Fünfer-Abwehrkette einstudieren liess. Der streitbare Coach, für gewöhnlich selbst Prediger von Ballbesitz und Offensive, setzt sich dafür sogar dem Vorwurf des Verrats holländischer Traditionen aus. Bei echten Fachleuten scheint der Respekt vor der dominanten Mannschaft dieser Zeit also noch intakt – wie sollte es auch anders sein?
Ein exzellentes, eingespieltes Team, ohne als Topfavorit zu gelten, die zusätzliche Stimulanz, mancherorts schon abgeschrieben zu werden – es gibt psychologisch schlechtere Ausgangspositionen. Mit durchschnittlich 3458 gespielten Minuten in der abgelaufenen Saison (Deutschland: 3164) ist Del Bosques Kader zwar der meistbeanspruchte, dafür könnte der ballsicheren Mannschaft, die nicht übermässig von der Physis lebt, das viel diskutierte Klima entgegen kommen. Spaniens Auserwählte jedenfalls schworen sich während des Flugs aus der Heimat darauf ein, erst am Tag nach dem WM-Finale zurückzukehren. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie ihren vermeintlichen Abgesang verschieben.