Gosch immerno an Match?

Ein 30-Jähriger ist im Profifussball ein «Routinier», Führungsspieler, ein alter Fuchs. Und als Fan? Bekenntnisse eines Anhängers.

Der wahre FCB-Fan weiss die Erfolge (Titelgewinn 23. Mai) zu feiern … (Bild: Hans-Jörg Walter)

Ein 30-Jähriger ist im Profifussball ein «Routinier», Führungsspieler, ein alter Fuchs. Und als Fan? Bekenntnisse eines Anhängers.

Ich* bin vor Kurzem 30 geworden und begleite dich nun seit fast zwei Jahrzehnten. Fussballbegeistert seit Kindesbeinen. Meine erste fussballerische Erinnerung beginnt im Keller meiner Grossmutter.

Mein Onkel Heinz (er heisst wirklich so) hatte ebenda seine Junggesellenbude mit einem Schwarzweissfernseher. Dort habe ich wohl meinen ersten Match gesehen, keine Ahnung, wer spielte. Ich erinnere mich an einen Spieler mit langen Haaren. Sonst bin ich nur selber dem Ball hinterhergerannt in der Hoffnung, ihn mal zu treffen – halt einfach «schutte».

Den FCB habe ich kaum wahrgenommen, als ich klein war. Er war in der Nati B, ich hörte nur die Resultate am Radio. Ich bin ein Kind der 80er-Jahre. Was nicht am Fernsehen kam, existierte nicht.

Sait dr Bappe zu sim Sohn … Nein, so war es nicht ganz. Er hat mich nicht an den Match mitgenommen. Das lag vor allem daran, dass er selber nicht mehr hinging. Früher schon. Ich habe ihn dann mitgenommen oder besser gesagt, ihn genötigt, mich mitzunehmen.

An einem Samstag (wir hatten an Samstagen noch Schule) legte ich ihm zwei Billette auf den Mittagstisch, die ich einem Freund abgeschwatzt hatte. Also gingen wir ins Joggeli. 1994, Aufstiegssaison. Das habe ich immer wieder geschafft, bis ich irgendwann alleine hinging. Ich glaube, er war froh, und ich auch.

Anstatt Mittellinie hiess mein Standort jetzt Muttenzerkurve. Das Ritual war stets das Gleiche: Bevor ich meine Freunde auf dem Zug traf, mahnte mich d Mamme, wo an dr Türe stoht, keinen Blödsinn zu machen und mich warm genug anzuziehen. Einmal hat sie mir eine Thermoskanne heissen Tee in den Rucksack getan, sie kam ungeöffnet wieder nach Hause zurück. Aber «machsch kei Seich» hörte ich noch viele Jahre vor jedem Match.

Stück für Stück wollte ich mehr davon, und bald hab ich mir meine erste Saisonkarte gekauft – Magic Card vom Bankverein hiess das Zauberwort damals. Die magische Karte für das magische Spiel, der Höhepunkt einer jeden Schulwoche.

1996 Rauchbömbchen auf das Spielfeld geworfen, dafür zwei Kläpper eingefangen und beim nächsten Spiel mit einer naiven Angst ins Joggeli gegangen. Heute wird mir bewusst, wie jung ich damals war. Die Jungs mit 14 heute sind da ganz anders … Die Kurve ist auch anders als damals. Die Männer mit Glatze und Bomberjacken, sie waren furchteinflössend.

Zeit der Träume

In dieser Zeit fing ich an zu träumen: Von dir und wegen dir, in der Nacht vor den Spielen. Ich träumte, wie ich meinen Zug verpassen könnte und mit ihm das Spiel. Selten waren es entscheidende Spiele – du warst meistens erfolglos.

1997 meinten wir, es würde alles anders und besser werden, als wieder grosse Namen im Team standen. Berger, Gaudino, Kreuzer, Knup. Es klappte nicht.

1998 wären wir fast abgestiegen, es gab Proteste wegen den Leistungen, wir stellten uns mit dem Rücken zu dir. Aus den drei letzten Spielen brauchten wir neun Punkte, wir schafften es!

Die Schlussphase in Kriens werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Ein Mann weniger, 2 : 1 vorne, Penalty für den Gegner gehalten, Konter, Tor, wildfremde Menschen umarmt, den Platz gestürmt – Wahnsinn! Schals um den Hals und die Handgelenke, schwitzend im Trikot aus Polyester, kein Gedanke daran, was jemand denkt, weil jeder sehen konnte, dass wir FCB-Fans sind. Sie fragten uns nach dem Resultat, wir waren glücklich, wir hatten gewonnen.

Eine neue Saison, plötzlich waren wir stärker. Und dann mussten wir uns vom alten Joggeli verabschieden und auf die Schützenmatte ziehen. 1999, 30 Franken Eintritt, dieser Preis gilt heute fast als normal. Ich wehrte mich dagegen und blieb draussen – ein gros­ser Schritt. Meine Grossmutter schenkte mir das Geld für die Saisonkarte – 450 Franken – ich legte es wie ein richtiger Schweizer auf mein Bankkonto und ging erst auf die Schütze, als der Eintritt auf 15 Franken gesenkt wurde. Prinzip ist Prinzip.

Jahrtausendwende mit dem Trainer Gross, wir spielten oben mit, wurden zum «Spitzenteam», Uefa-Cup-Qualifikation. Wir warteten auf das neue Stadion. Wieder mit dem 14er ins Joggeli fahren, wieder die Massen sehen und dort zu stehen.

2001 war es so weit, endlich. Im neuen Joggeli musste erst alles seinen Platz finden, auch die Zuschauer und Fans, die neue Muttenzerkurve. Ich fand meinen Platz dort. Wir haben uns zusammengeschlossen, wir wurden eine Bewegung, konnten uns engagieren, wollten es. Wir wollten mehr davon. Auswärtsfahrten nach Europa – es war geil.

2002 der Titel – der Traum ging in Erfüllung! Es ging noch weiter, es wurde noch wilder, härter, lauter, schöner und schwieriger. Diskussionen mit dem Chef, sich erklären, sich rechtfertigen, die richtigen Worte finden, für etwas, was man tat, oder bei dem man dabei war oder das man einfach o. k. fand. Erklärungen für das Gute wie für das, was man in der öffentlichen Wahrnehmung als schlecht befand. In der Stadt Unterschriften für Stehplätze in der Muttenzerkurve sammeln, in einer Zeit, in der mit dem Finger auf die Kurve gezeigt wird.

Auf Schalke 2004 die Gummiknüppel der Polizei – Wut, Hass und sich des Risikos bewusst werden, das man einging. Verhaftung in Altstetten, zusammenwachsen und weitermachen.

2005 durfte ich meinen Kopf eine Woche lang in «Tagesschau» und «10 vor 10» betrachten, weil unter der Tribüne ein paar Papierschnipsel brannten, im Büro nannten sie mich jetzt «Hooligan». Ich weiss nicht, wie viele in Wirklichkeit daran glaubten. Es konnte mir den Spass an dir nicht verderben, niemals. Die Reisen durchs Land, durch Europa, den Spass, den wir unterwegs hatten mit Bier und Joints, die Vorfreude aufs nächste Mal, der Glaube, es bleibe immer so.

Europacup 2006, wir waren sicher, dass wir ins Finale kommen würden – bis Middlesbrough. Es wurde das Jahr der vielen Stiche ins Herz und der unsicheren Zukunft. In der Zeit habe ich mir eine Auszeit gegönnt, um danach weiterzumachen wie bis anhin. Weil wir aufgestanden sind, weil es weiterging.

Die Saison 2006/2007 wurde für mich zu einer der besten, die wir jemals hatten. Kurve und Mannschaft waren stark. Mit dem Glauben, den Titel zurückzuholen, stieg die Begeisterung für dich. Die Hoffnung lebte bis zur letzten Minute, viele waren enttäuscht – dafür holten wir den Cup.

Bleibt alles anders

Mit 25 änderte sich mein Leben: Berufliche Neuorientierung – ich bin dir weiter gefolgt. Der Torjubel 2008 in Neuenburg, Ivan Ergic’ Kopftor in der 92. Minute, das Double.

Ganz langsam fingen die Dinge an, sich zu ändern. Freunde fingen an, Familie zu planen, zogen um, arbeiteten mehr, länger, an einem anderen Ort. Man traf sich seltener, ging früher heim. Einige blieben zu Hause, weil sie lieber mit der Freundin an die Herbstmesse gingen als mit uns ans Spiel zu fahren. Was ist passiert?

2009 wurde Gross entlassen – endlich dachten wir. Wir fingen fast bei null an mit Thorsten Fink. Ein schwieriges Jahr, auch für mich, nicht alles klappte wie gewünscht, aber es war gut so.

Mai 2010, dieser unglaubliche Monat: In Aarau die Brille im Tränengas verloren, wenig später den Cup gewonnen, die Meisterschaft – ich konnte es kaum glauben. Und noch mehr. Konnte es noch besser werden? Kaum vorstellbar in einem Jahr, in dem sich wieder so viel änderte. Ich habe es erst gar nicht bemerkt, ich denke aber, dass ich mich genau dann verändert habe, dass ich dort älter wurde – die Welt um mich herum ist nicht stehen geblieben.

2011 der Titel und direkt in die Königsklasse. Die Jungs jubelten in Manchester – ich habe es am Fernseher gesehen. Ich konnte aber mit dir 2012 träumen, dass wir die Bayern raushauen, drei Wochen und zehn Minuten. Ich träumte von der Verlängerung – leider wurde nichts daraus. Und da war ja noch die Sache mit dem Titelhattrick.

Was geblieben ist

Heute kann ich nicht mehr an jedes Spiel gehen, mein Job verunmöglicht es mir. Ich bin aber auch schon an einem Sonntag im Bett liegen geblieben, weil es mir zu kalt war. Wer hätte es je geglaubt? 2002, als ich in der RS war und du gegen Celtic gewonnen hast?

1999, als dieser Judas namens Mario Frick garantiert absichtlich am Zürcher Tor vorbeigeschossen hat, 1998 auf dem Rasen in Kriens, als der Linienrichter von den Baslern verprügelt wurde. Als 1997 die «Sieg Heil»-Rufe in der Kurve nicht zu überhören waren. 1994, als ich noch klein war und den Stadiongeruch einatmete und mich mein Vater mit dem Schlusspfiff aus dem Joggeli zog.

Ich kam ja zurück, immer wieder. Ich weiss nicht, wie viele Spiele ich gesehen habe und wie viele Spieler für den FCB gespielt haben in dieser Zeit. Ich könnte versuchen, sie einmal aufzuzählen, wenn ich in der Nacht nicht einschlafen kann. Ich hab so viel erlebt mit dir, für ein Buch wird es wohl nicht reichen, aber ich bin ja nicht Nick Hornby, und ausserdem gibt es bereits jetzt genügend Fussballbücher.

Viele finden es reichlich kindisch, was ich und viele andere Woche für Woche machen, und das mit 30. Wenn man bedenkt, dass es im aktuellen FCB-Kader nur noch sechs Spieler gibt, die älter sind als ich. Mag sein.

Doch, wie viele 30-Jährige können sich noch immer wie ein Kind über etwas freuen, so wie ich mich ab dir? Worüber freuen sich andere Mittdreissiger? Ab einem Mittelklassewagen? Mit dem Geld, das ich für dich schon ausgegeben habe, hätte ich mir sicher auch einen kaufen können – vielleicht sogar mehrere. Oder andere teure Dinge, von denen ich nicht wüsste, wozu ich sie brauchen könnte …

Aber mit keinem Geld der Welt hätte ich mir das Gefühl kaufen können, dort in Bern, als Valentin Stocker diesem Ball hinterhersprintete, ihn erst mit rechts verfehlte aber dann mit der linken Fussspitze noch drankam. Er ihn irgendwie über Wölfli lupfen konnte und der Ball kurz vor der Linie aufprallte und den Weg ins Tor fand. Zwei Sekunden, in denen die letzte Nervenzelle meines Körpers angespannt war und mir kurz darauf einen Endorphinschub lieferten, wie ich es nicht für möglich gehalten hatte.

Ich bin dankbar für diese Jahre an deiner Seite, in denen ich so viel erlebt habe, mit all jenen, die dabei waren. Für die Freude, für den Schmerz und für das Gefühl, dass ich mit dir so was wie die ewige Jugend gefunden habe. Und dafür, dass ich mit dir gelernt habe, wegen dir, was «normale» Leute in meinem Alter nicht lernen können. Werte wie Gemeinschaft und Solidarität, die sie so wie wir niemals gelebt haben. Dankbar dafür, dass ich so erwachsen werden konnte und hin und wieder sein kann, als wäre ich 16.

Spezieller Dank gebührt em Bappe, dass mi damals mitgno hesch!
 

Dieser Beitrag ist unter Pseudonym im «Schreyhals» erschienen, einer Publikation der Muttenzerkurve. Die Zeitung erschien im August 2004 zum ersten Mal und berichtet in unregelmässigen Abständen über Geschichten, Anekdoten und Erlebnisse rund um die Faszination FCB. An Spieltagen werden die werbefreien Exemplare rund um das Stadion kostenlos verteilt. Anlässlich des Spiels gegen die Grasshoppers vom 12. März 2012 erschien die 35. Ausgabe. Unter dem Titel «Gosch immerno an Match?» beschreiben Fans ihr Fan-Sein: alte und junge, gemässigte und wilde.
www.muttenzerkurve.ch

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 25.05.12

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