Sägemehl bleibt Sägemehl. Vor dem Gang reibt sich der Schwinger damit die Hände ein, danach klopft es der Sieger dem Verlierer von den Schultern. Abgesehen davon wird beim Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest in Burgdorf jedoch erneut deutlich, wie Schwingen vom Nischen- zum Publikumssport mit riesiger Ausstrahlung geworden ist.
Natürlich gab es auch früher schon prominente und populäre Ausnahmeschwinger wie den Hunsperger Rüedu, den Meli Karl und den Schläpfer Ernst. Aber ihr Bekanntheitsgrad hielt sich in Grenzen; die Zuschauer beim Eidgenössischen Schwing-und Älplerfest (ESAF) waren eine verschworene, konstant kleine Gemeinde.
1931 waren insgesamt 25’000 Zuschauer zugegen und zelebrierten ihr urchiges Brauchtum. Die Anteilnahme am «Eidgenössischen» änderte sich auch in den folgenden Jahren der «geistigen Landesverteidigung» nicht gross. Der Zuschauerrekord wurde erst in den 60er Jahren gebrochen.
Doch im 21. Jahrhundert explodierten die Besucherzahlen richtiggehend. 2004 übertrug das Schweizer Fernsehen aus Luzern erstmals ein Schwingfest live. Für Ruhe und Ordnung unter den 200’000 Festbesuchern sorgten übrigens ganze sechs Sicherheitsleute. Auch das hat sich inzwischen verändert.
2010 in Frauenfeld verfolgten schon 250’000 Besucher das Kampfgeschehen. Burgdorf stellt sich am Wochenende auf 300’000 Schaulustige auf den Tribünen und im Public-Viewing-Bereich ein. Und SRF ist an zwei Tagen 16 Stunden live dabei beim Hochamt der Schwinger, Hornusser und Steinstosser.
Identitätsstiftendes Brauchtum und Massenphänomen
In einer Zeit der Globalisierung, der Digitalisierung und des Aktivismus der sozialen Netzwerke scheint das traditionell-gemächliche, werbefreie – auch wenn am ESAF beträchtliche Sponsorengelder fliessen – und volksnahe Schwingfest willkommener Anlass zu sein, bodenständige Swissness zu feiern und sich zwei Tage lang als Teil einer einzigartig bodenständigen Community zu verstehen.
Rekorde und Hirngespinste rund um den Hosenlupf – Das Event-Publikum am Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest vom Wochenende giert nach einer heilen Welt. Doch diese existiert auch hier nicht, kommentiert Anja Knabenhans.
Doch das schwingfesterfahrene, meist ländlich geprägte Publikum zeigt sich nicht nur begeistert über die plötzliche Popularität bei den städtischen Massen. Kleine Schwingveranstaltungen profitieren nur wenig vom Boom – das grosse Publikum interessiert sich für den Massen-Event und nicht für die regionalen Feste.
Denn Massenveranstaltungen ziehen ein eigentlich ähnliches Publikum an: Oft sind es dieselben Leute, die sich für die «Oktoberfeste» nach Münchner Muster jeweils für einen Abend in Lederhosen und Dirndl werfen, die an der «Street Parade» Haut zeigen, an die grossen Rockfestivals pilgern und schliesslich am Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest im Edelweisshemd erscheinen.
Der Event an sich ist fast wichtiger als das eigentliche Thema. Das Geschehen im Sägemehl, die Noten und die Zwischenranglisten, die über das Ausscheiden und Weiterkommen entscheiden, spielt nicht mehr die Hauptrolle. Die Einteilungen, die von Vertretern aller Teilverbände vorgenommen werden, schlauen alten Füchsen, die ihren «Bösen» den Weg in den Schlussgang ebnen wollen und hinter verschlossenen Türen tagen – das ist nur etwas für Insider.
Kafi fertig statt Cüpli
Kein Wunder also, dass die Zeitschrift «Schlussgang» mit Feuereifer versucht, seinen Schwingfest-Knigge unters Volk zu bringen: Währschaftes Schuhwerk statt «Stögi» ist angesagt, Wanderbluse statt Krawatte, Kafi fertig statt Cüpli, selbst mitgebrachtes Znüni statt Sushi, Pelerinen, durchaus im militärischem Vierfrucht-Muster, statt Regenschirme, kleine Jauchzer statt Lärminstrumente und rosige Bäckchen statt dickes Make-up und Modeschmuck.
Weil das Eidgenössische inzwischen auch über die Grenzen ausstrahlt, muss man es auch aushalten, dass sich Nichteingeweihte der Faszination des Grossevents annähern. «Spiegel online» hat den typisch schweizerischen «menschlichen Bullenkampf» entdeckt, bei dem bärige Muskelprotze «sich in den Armen liegen» und «Urlaute wie Pfüüüt! und Huaaa!» von sich geben. Und empfiehlt seiner Leserschaft wärmstens die Reise zu den entsprechenden «Schwingerpartys».
Schiefertafel und Papier gehörten einmal beim Schwingfest zu den wichtigsten Informationsträger zwischen Kampfrichtertisch, Kommentator, Medien und Publikum. In Burgdorf kommen zum ersten Mal im grösseren Rahmen Computer zum Einsatz. Software-Anbieter SAP, seit Jahren mit Schwingerkönig Nöldi Forrer verbandelt, hat zum ESAF eine spezielle App entwickelt, mit der die Fans am Platz und zuhause via Internet in Echtzeit über das Geschehen auf dem Laufenden gehalten werden. Direkt vom Kampfrichtertisch wird die Gratis-App mit allen relevanten Daten gefüttert und bietet daneben Zusatzinformationen wie eine Schwingfibel. Unter der elektronischen Innovation könnte eine althergebrachte Einnahmequelle der Schwingfeste leiden: die für einen Franken auf dem Platz verkauften Zwischenranglisten.
Die App läuft auf iOS- und Android-Geräten. Download unter www.esaf-app.ch
Wer es ganz trocken mal mit Schwingen versuchen mag: Der Wikipedia-Eintrag.
Und so wurde Kilian Wenger 2010 Schwingerkönig.
Artikelgeschichte
Weitere Quellen des Autors:
Berner Zeitung:
Schwingfest-Knigge: Cüpli und «Stögelischuhe» verboten
Weltanschaulicher Schlungg im Sägemehl