Als Kind ist er in der Schweiz gelandet und als vielversprechener Mehrkämpfer schliesslich auf einer Mittelstrecke – die ungewöhnliche Geschichte des Hugo Santacruz, der die Schweiz heute an der Heim-EM in Zürich über die 800 Meter vertritt.
Auf die Frage von Mittelstrecken-Nationaltrainer Louis Heyer weiss niemand eine schlüssige Antwort: «Hat es das zuvor schon einmal gegeben, einen ehemaligen Zehnkämpfer mit internationaler Grossanlass-Erfahrung, der sich Jahre später über die 800 Meter mit der Konkurrenz auf höchster Ebene misst?» Hugo Santacruz heisst der Mann, der diesen Weg gegangen ist und der in dieser Woche über die beiden Bahnrunden zeigen will, was er kann. Und so ungewöhnlich die Geschichte des Sportlers ist, so bewegend ist die Lebensgeschichte.
Das Programm am ersten Tag
Hugo Santacruz wird 1988 in Paraguay, im südamerikanischen Kleinstaat und Binnenland, als zweites von vier Kindern geboren. Guarani, die indianische Landes- und Spanisch, die offizielle Sprache lernt er. Mit acht zieht er mit seiner Mutter und dem Stiefvater in die Schweiz, genauer nach Rafz. Dort tritt er dem Turnverein bei und stillt seinen Bewegungsdrang.
Nach der Scheidung der Eltern im Heim
Mit der Scheidung der Eltern wird der Mutter das Sorgerecht für die Kinder entzogen. Hugo Santacruz landet in einem Heim in Zürich. Hier tritt er die Lehrstelle als Elektriker an. Im TV Unterstrass zeigt er sein Talent als Mehrkämpfer. Er qualifiziert sich für die U20-EM im holländischen Hengelo und wird dort 18. Wir schreiben das Jahr 2007.
Nach dem Lehrabschluss formuliert der talentierte Sportler als Fernziel 7800 Punkte. Die Europameisterschaften, die nach Zürich kommen sollen, rücken in seine Gedankenwelt. Santacruz zieht weiter, schliesst sich den Mehrkämpfern um den damaligen Nationaltrainer Markus Bucher in Buttikon-Schübelbach an. Ein Bänderriss am Sprunggelenk bremst ihn.
Aber Santacruz gibt nicht auf, wechselt 2011 nach Rapperswil zur ehemaligen Weltklasse-Läuferin Cornelia Bürki und widmet sich den 400 Metern. 2013 setzt er auf die doppelte Stadionrunde. Zweimal scheitert er hauchdünn – um 8 respektive 14 Hundertstel – an der EM-Limite von 1:47,80 Minuten, doch in diesem Juli schafft er es in 1:47,80 – und so erfüllt sich der langgehegte Wunsch.
Der Nervosität will er davonlaufen
Am Dienstagabend tritt Hugo Santacruz um 19.12 Uhr zu seinem Vorlauf an. Seine Nervosität kann er kaum zügeln. «Es ist dieser Anlass, dieser Tag, dem ich seit Jahren entgegenfieberte», sagt er. An 26. Stelle figuriert er auf der Meldeliste. Eine Aussenseiterposition. Doch diese behagt ihm. «Ich bin gerne Aussenseiter», sagt der Mann, der nach wie vor einer 80-Prozent-Anstellung in seinem erlernten Beruf nachgeht, «„ich habe nichts zu verlieren.»
Nutzen will er diese Ausgangslage und geniessen. Das Halbfinale mit den 16 Besten dieses ersten Tages sieht er als realistisch, und seinen sportlichen Hintergrund betrachtet er als Vorteil: «Ich bin vielseitig, kann taktisch laufen, bin endschnell, kann auch die Initiative übernehmen, kann die Arme einsetzen.» Und die Familie auf der Tribüne sorgt für mentale Unterstützung.
Das Weltmeisterbild
Der letzte Schweizer Läufer, der über seine Distanz für internationale Akzente gesorgt hat, war André Bucher, der Weltmeister von 2001 und EM-Zweite von 1998 und 2002. «Es gibt Fotos von Bucher und mir», erzählt Santacruz. Das ging nicht auf seine Initiative zurück. Vielmehr schwärmte Santacruz‘ Mutter für Bucher.
Der Sohn sieht es heute nüchtern: «Mich macht es stolz, die beste Zeiten in der Nach-Bucher-Zeit gelaufen zu sein, aber Bucher und ich, das sind andere Welten.» Die Differenz, das sieht er richtig, die ist nach wie vor gross: 4,40 Sekunden.
» Die Europameisterschaft im Dossier des Schweizer Fernsehens SRF
» Die Hoffnung auf einen grossen Coup – Die TagesWoche zur Heim-EM
» Die Bank im Marathon und eine Wundertüte – Die Schweizer EM-Hoffnungsträger