«Ich komme nicht aus meiner Haut heraus»

«Ich hatte noch nicht die richtige Qualität als Trainer», sagt Joachim Löw über seine Anfänge in Frauenfeld, Innsbruck und Stuttgart. Heute gilt der 52-jährige Bundestrainer aus Südbaden als stilprägend für eine moderne deutsche Nationalmannschaft. 

«Nicht in völlig Euphorie verfallen und nicht zu pessimistisch sein.» (Bild: Reuters/INA FASSBENDER)

«Ich hatte noch nicht die richtige Qualität als Trainer», sagt Joachim Löw über seine Anfänge in Frauenfeld, Innsbruck und Stuttgart. Heute gilt der 52-jährige Bundestrainer aus Südbaden als stilprägend für eine moderne deutsche Nationalmannschaft. 

Herr Löw, haben Sie Sich je Gedanken darüber gemacht, wie Ihre
Karriere verlaufen wäre, hätte Sie der Präsident und Investor Frank Stronach 2004 bei Austria
 Innsbruck nicht rausgeworfen – und das als Tabellenerster?
Joachim Löw: Dann wäre ich heute höchstwahrscheinlich nicht hier bei der
 EM. Jedenfalls nicht als Bundestrainer. Wenn ich bei der Austria nicht
 entlassen worden wäre, dann hätte mich Jürgen Klinsmann nicht zum DFB 
geholt. Und wenn mich Jürgen nicht geholt hätte, wäre ich heute nicht 
Bundestrainer, sondern vielleicht Trainer beim DSV Leoben.


Insofern müssten Sie Frank Stronach ja eigentlich sogar dankbar sein
, oder?
Nein, nein, in erster Linie muss ich Jürgen Klinsmann Danke sagen. Das
 war einfach eine glückliche Konstellation. Interessant, wie Karrieren
manchmal verlaufen. Bei meinem Beginn ist es ähnlich schnell gegangen.

Erzählen Sie.
Ich war damals Spielertrainer in der Schweiz beim FC Frauenfeld und 
diese Rolle hat mich völlig ausgefüllt. Es war meine erste Station, und
 zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir überhaupt nichts anderes vorstellen. 
Ich wollte eigentlich gar nicht weg.


Und dann bestellte Sie Rolf Fringer zu seinem Co-Trainer beim VfB
 Stuttgart.
Er musste mich erst überreden, dorthin zu gehen. Und nach einem Jahr war 
ich auf einmal Cheftrainer beim VfB Stuttgart. Ich bin damals richtig 
ins kalte Wasser geworfen worden, ich hatte noch keine Erfahrung und –
 ehrlich gesagt – auch noch nicht die richtige Qualität als Trainer.
 Meine Planung hatte nämlich anders ausgeschaut: Ich wollte eigentlich
 von der Pike auf nach oben kommen, in Ruhe. Beim Nationalteam verlief es 
im Grunde genommen ähnlich. Nach zwei Jahren war ich auf einmal 
Bundestrainer.

Und jetzt gehen Sie bereits in Ihr drittes Turnier. Sind Sie heute 
gelassener als bei Ihrem EM-Debüt 2008?
Schwer zu sagen. Möglicherweise war bei mir bei der Vorbereitung auf die
 EM 2008 noch eine gewisse Ungewissheit vorhanden. Mir hat damals einfach
 die Turniererfahrung gefehlt: Welche Reize müssen gesetzt werden, welche 
Problematiken können entstehen, und, und, und. Heute gehe ich sicher
 gelassener ins Turnier.

Vor der Euro mussten Sie wie vor jedem Turnier einige 
Spieler aus Ihrem Kader streichen. Wie schwer fallen Ihnen solche
 Entscheidungen?
Das tut mir manchmal menschlich ein Stück weit richtig weh. Ich sehe die 
Spieler tagelang im Trainingslager, ich beobachte, wie sie mit 
Leidenschaft bei der Sache sind, sich einbringen und für einen 
Startplatz kämpfen. Und dann kommt der Tag X, an dem ich ihnen sagen 
muss, dass sie diesmal nicht dabei sind.
 Dafür gibt es kein Patentrezept. Ich verstehe, dass für manchen Spieler
in diesem Moment möglicherweise eine kleine Welt zusammen bricht. Manche
 nehmen das cool, aber es gibt auch Spieler, die diese Entscheidung
 schwer verkraften können und daran zerbrechen.

«Egoisten sind im Fussball
zunehmend fehl
 am Platz sind»

Wie suchen Sie überhaupt Ihre Spieler aus?
Bei einem Mannschaftssport
 wie Fussball unterliegt alles dem Teamgedanken. Natürlich gibt es auch 
von unserer Seite für jede Position Anforderungsprofile, und wir 
überlegen uns ganz genau, wer unsere Vorstellungen am besten umsetzen 
kann. Nicht die elf spektakulärsten oder besten Spieler werden auf dem Feld 
stehen, sondern jene elf Spieler, die ein optimales Mannschaftsgefüge
 ergeben. Das ist heute ein wesentliches Kriterium im modernen Fussball.

Haben es also Exzentriker immer schwerer?

Das hängt davon ab, welche Prioritäten und Vorstellungen ein Trainer
 hat. Ich vertrete die Meinung, dass Egoisten im Fussball zunehmend fehl
 am Platz sind. Die mannschaftliche Geschlossenheit tritt mehr und mehr
 in den Vordergrund. Teamgeist und Verlässlichkeit auf dem Platz sind 
wichtiger als jene Zeitgenossen, die sich durch ihre Spiel- und
 Verhaltensweise nur selbst in den Mittelpunkt stellen wollen. Überhaupt
 bei einem Turnier, das einige Wochen dauert.


Inwiefern?
Eine Mannschaft braucht bei einem langen Turnier auch Energiegeber und 
Spieler mit einer hohen Frusttoleranz. Spieler, die auch dann noch 
positive Stimmung erzeugen, wenn sie einmal nicht zum Einsatz kommen. 
Diejenigen, die keine Energie an die Mannschaft weitergeben, sondern 
durch egoistische und eigenwillige Aktionen nur für Unruhe sorgen, sind 
nicht unbedingt gefragt.


Dafür ist der deutsche Fussball umso mehr gefragt: Sind Sie stolz auf den 
Imagewandel, den die deutsche Nationalmannschaft in den letzten Jahren
 vollzogen hat?

Das war mir schon ein grosses Anliegen, dass die Fans sagen: «Wir sind 
stolz darauf, wie ihr spielt». Ich wollte immer, dass sich unser Team
 über Spielkultur definiert und nicht allein über den Kampf. Es geht 
darum, bei den Menschen positive Emotionen zu wecken. Und wenn die Leute
 auf die Strasse gehen und feiern, dann ist das für mich auch ein ganz 
wichtiger Erfolg.


Da kommt der Ästhet in Ihnen durch, oder?

Ich komm’ einfach nicht aus meiner Haut raus. Natürlich war Deutschland 
immer gefürchtet, jeder kannte diesen Begriff der Turniermannschaft. 
Aber seien wir ehrlich: Diese Spielweise hat manchmal niemanden vom Sitz 
gerissen. Deshalb empfinde ich schon eine gewisse Freude, dass wir als 
deutsche Mannschaft mittlerweile spielerische Akzente setzen und mit den 
weltbesten Teams mithalten können. Das ständige Gerede von Moral und den
 deutschen Tugenden ist überflüssig.


Warum?
Weil es in meinen Augen der falsche Ansatz ist. Leidenschaft, Kampf – natürlich gehört das zum Einmaleins des Fussballs, aber darüber will
 ich nicht ständig kommunizieren müssen. Für mich ist darüber hinaus das
 Entscheidende: Wir wollen modern und attraktiv spielen – im wahrsten 
Sinne des Wortes. Denn nur so kann man im heutigen Fussball langfristig
 erfolgreich sein.


«Die
 Worte Defensiv und Offensiv
sind fast schon überholt»

Heisst das, ein Europameister, der wie die Griechen 2004 das Heil in der
 Defensive sucht, ist 2012 nicht mehr möglich?
Dass das überhaupt nicht mehr passieren kann, will ich jetzt nicht 
behaupten. Dafür gibt es im Fussball zu viele Unwägbarkeiten. Jeder hat
 die Champions League gesehen: Man kann jetzt nicht sagen, dass der Stil 
von Chelsea modern ist. Es wird immer wieder einmal Teams geben, die mit 
defensivem, vielleicht sogar destruktivem Fussball etwas Grosses
 erreichen. Allerdings …


Allerdings?
Allerdings glaube ich, dass diese Zeit mehr und mehr vorbei ist. Nur 
jene Mannschaften, die Fussball spielen können und agieren, sind in der 
Lage, dauerhaft um Titel zu spielen und einen guten Eindruck zu
hinterlassen. Abwarten und nur reagieren – damit hast du heute praktisch
 keine Chance mehr. Der Fussball ist schnell, es geht hin und her. Die
 Worte Defensiv und Offensiv sind fast schon überholt, wichtig ist viel
mehr, dass jeder schnell umschalten kann.


Seien Sie ehrlich: Könnten Sie Sich wirklich nicht freuen, falls 
Deutschland auf destruktive und glückliche Art und Weise den EM-Titel 
holen würde?

Sagen wir einmal so: Bei einem Turnier herrschen natürlich andere
 Gesetze. Da gibt es keinen Schönheitspreis. Nehmen wir zum Beispiel den 
EM-Halbfinal 2008 gegen die Türkei …

… als 
Deutschland durch einen Treffer von Lahm in den Final eingezogen ist.
Richtig. Wir waren damals sicher nicht unbedingt die bessere und 
überzeugendere Mannschaft, aber wir sind weiter gekommen. Kurzfristig
 freue ich mich da schon, aber ich muss als Trainer immer weiter schauen. 
Und da gab es in der Vergangenheit auch Siege, die mich nicht richtig
 stolz gemacht haben.


Wie erleben Sie überhaupt so ein Turnier? Verspüren Sie Stress, 
Nervosität, oder können Sie eine EM geniessen?

Richtig geniessen kann ich nur die Vorbereitung. Denn da habe ich die 
Gelegenheit, einmal in einer gewissen Ruhe mit der Mannschaft zu 
arbeiten. Das ist der Trainer in mir, wenn ich auf dem Platz stehen 
kann, dann bin ich in meinem Element. Ich würde sogar sagen, dass ich 
während der Vorbereitung auf ein Turnier richtig tiefenentspannt bin.


Und wie ist es um Ihre Gemütslage während einer EM oder WM bestellt?

Ganz ehrlich: Das Turnier selbst kann ich nicht richtig geniessen. Es ist
 jetzt zwar nicht so, dass mich das belasten würde, oder dass ich Angst
 hätte. Aber ich befinde mich da irgendwie wochenlang in einem Tunnel, 
in dem ich meine Emotionen für mich behalte. Und das ist auch gut so.



Wieso das?
Ich darf einerseits nicht in völlige Euphorie verfallen, wenn wir gut
 gespielt haben. Andererseits darf ich nach einer Niederlage auch nicht
 zu pessimistisch sein. Trotzdem bin ich in diesen Stresssituationen
 relativ ruhig, bin extrem fokussiert und in diesen Wochen für Leute von 
aussen kaum ansprechbar.


«Sieben Wochen am Stück den ganzen Tag
nur an 
Fussball denken ist brutal anstregend»

Klingt nach einer Extrembelastung für den Geist?

Du kannst dir während eines Turniers auch kaum Freiheiten nehmen. Einmal
 einen halben Tag Auszeit, in Ruhe Kaffeetrinken gehen – das gibt es 
nicht. Weil du von morgens bis abends beschäftigt bist, mit Analysen, 
mit Gesprächen und, und, und. Auf Dauer wäre das keine Lebensqualität.



Fallen Sie anschliessend in ein Loch?
Klar. Irgendwann nach dem Turnier. Während eines Turniers freue ich mich 
ja, dass wir gegen Portugal spielen, gegen Holland, das ist brisant, das 
ist superschön. Aber nach dem Turnier merke ich erst, wie brutal 
anstrengend das Ganze ist. Sieben Wochen am Stück, den ganzen Tag nur an 
Fussball denken, an die Mannschaft Irgendwann kommt dann zwangsläufig ein 
emotionaler Abfall, eine gewisse Form der Leere.


Der Tribut, den der Traumjob Bundestrainer fordert?
Es gibt wie überall Vor- und Nachteile. Ich hatte jetzt die Chance, bei
 mehreren Turnieren als Bundestrainer dabei sein zu dürfen. Das ist schon
 ein Highlight. Jeder Trainer wünscht sich, so etwas zu erleben. Auf der 
anderen Seite bringt so ein Job natürlich auch Nachteile mit sich. Aber 
die hat der Trainer des FC Bayern genauso.

Welche Begleiterscheinungen meinen Sie?
Ich würde mir manchmal mehr Privatsphäre wünschen und ein wenig mehr
 Freiraum. Manchmal wäre es auch schön, wenn nicht so viele Leute mein
 Gesicht kennen würden. Aber das ist nun einmal nicht mehr möglich, ich
 kann das Rad nicht zurückdrehen.


Hat das Amt als Bundestrainer Sie denn verändert?
In meiner Persönlichkeit habe ich mich nicht verändert, aber natürlich 
in meiner Verhaltensweise. Menschen, die mir nahestehen, sagen manchmal
 zu mir: «Du bist distanzierter geworden.» Ich ziehe mich heute sicher 
mehr zurück, als früher.



«Beliebtheit ist keine 
Kategorie,
die im Sport zählt»

Wie geht es Ihnen dabei, wenn ständig Fotoapparate und 
Handykameras auf Sie gerichtet sind?

Es gibt Tage, da nervt es mich. Vor allem, wenn mich Leute ungefragt 
fotografieren. An anderen Tagen kriege ich es dann gar nicht mit, wenn 
ich fotografiert werde. Bei einem Glas Rotwein etwa oder früher, wenn 
ich geraucht habe.



Ihrer Popularität scheinen Zigaretten und Rotwein nicht geschadet zu
 haben. Sie zählen neben Showmaster Günther Jauch und Altkanzler Helmut 
Schmidt zu den beliebtesten Deutschen.

Der Unterschied ist nur, dass die beiden in dieser Kategorie bleiben.
 Bei einem Trainer ist die Fallhöhe grösser, denn wir sind stark 
erfolgsabhängig. Das kann ich schon einschätzen. Beliebtheit ist keine 
Kategorie, die im Sport zählt. Mir ist klar, wie schnell sich das ändern
 kann.


Apropos ändern: Werden Sie beim DFB in Pension gehen oder reizt Sie 
der Job als Vereinstrainer noch einmal?
Irgendwann will ich mit Sicherheit noch einmal einen Verein trainieren
 und täglich auf dem Platz stehen. Ich glaube nicht, dass ich bis zu 
meiner Pensionierung Bundestrainer sein werde.

Das Interview, dass der Kollege Christoph Geiler mit dem ihm aus gemeinsamen Innsbrucker Zeiten bekannten Joachim Löw führte, hat uns der «Kurier» aus Wien freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

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