Für Nachrufe sei es viel zu früh. Auch in Wimbledon werde er noch viele Matches gewinnen, sagte Roger Federer nach seiner sensationellen Zweitrunden-Niederlage gegen den Ukrainer Sergej Stachowski.
Es war schon vor dem abendlichen Donnerschlag unter heiterem Himmel der verrückteste Grand Slam-Tag der jüngeren Geschichte – mit Absagen, verletzten Stars und einer hitzigen Diskussion um die rutschigen Tennis-Grüns von Wimbledon.
Doch genau um 20.16 Uhr Ortszeit am Mittwoch rückte das alles in den Hintergrund, genau in dem Moment, als der Ukrainer Sergej Stachowski auf dem Centre Court rücklings zu Boden ging – der Mann, der soeben den grossen Roger Federer in der zweiten Runde der Offenen Englischen Meisterschaften des Jahres 2013 mit 6:7 (5:7), 7:6 (7:5), 7:5 und 7:6 (7:5) bezwungen hatte.
Es war, nicht mehr, nicht weniger, die grösste Überraschung, die sich bei einem der vier Major-Turniere seit Jahren abgespielt hatte – herbeigeführt von einem Mann, der in der Weltrangliste nur auf Platz 116 geführt wird.
«Ich kann nicht glauben, was ich da gerade gesehen habe», sagte der ehemalige Superstar John McEnroe am BBC-Mikrofon und traf damit den Nerv der Tenniswelt. Zwei Tage nach dem Rausschmiss von Rafael Nadal war damit auch der zweite Titan der letzten Wimbledon-Jahre verschwunden, undenkbar eigentlich, aber doch Realität.
Historisch
«Es ist ein schwerer Moment», sagte Federer später, der von den Fans auf dem Centre Court mit einer «standing ovation» verabschiedet worden war. «Ich werde jetzt wieder an die Trainingsarbeit gehen – und hoffentlich stärker zurückkommen. Auch im nächsten Wimbledon-Jahr.»
Es war für Federer eine ebenso schmerzliche wie historische Niederlage, die viele seiner unglaublichen Serien beendete – etwa die seiner 36 aufeinander folgenden Viertelfinal-Teilnahmen bei Grand Slam-Wettbewerben. Zudem war es der früheste Knockout bei Majorturnieren seit den French Open 2003 – damals hatte Federer in der ersten Runde gegen den Peruaner Luis Horna verloren, war aber danach zu seinem ersten Triumph in Wimbledon gestürmt.
Zehn Jahre später erlebte Federer eine Pleite, die zweifellos auch die Fragen nach dem Ende seiner ganz grossen Ära an der Spitze des Welttennis befeuern dürfte. Das ist unvermeidlich nach dem Fehlschlag gegen Tour-Spassvogel Stachowski, den niemand auf der Rechnung hatte. Natürlich auch Federer nicht, der vor anderthalb Wochen noch stolze Rasenkönig von Halle.
Wie in einem Rausch
«Ich stehe hier und kann es nicht fassen», gab der überwältigte Stachowski zu Protokoll, «in Wimbledon auf dem Centre Court gegen Federer zu spielen heisst gegen zwei Personen zu spielen – gegen Federer und sein starkes Ego gleichzeitig.» Und, wie schaffte er es im Duell Eins gegen Zwei, gegen den doppelten Federer? «Magie», sagte der Ukrainer, bekannt für seine spitzen Sprüche und humoristischen Einlagen.
Doch zum Spassen war er zumindest im Spiel nicht aufgelegt am Tag, der sich als grösster seiner ganzen Karriere erweisen sollte. Der Tag, an dem er vielleicht Federer den Wimbledon-Zauber nahm, seine ganz besondere Aura an diesem Schauplatz.
Eine kleine Zeitreise
Fast ein wenig wie eine Zeitreise wirkte die Strategie, mit der Stachowski den Maestro in die Knie zwang – mit ganz klassischem Angriffstennis, von dem doch so viele behauptet hatten, man könne es im modernen Wimbledon mit seinen langsamen Platzverhältnissen gar nicht mehr spielen. Doch Stachowski stürmte unentwegt und pausenlos in die Offensive, wie ein Becker oder ein Edberg in den 90er Jahren, setzte Federer ständig unter Druck.
Der Schweizer spielte nicht einmal schlecht, aber er hatte einfach das Pech, auf einen wie rauschhaft auftretenden Rivalen zu treffen, der fast traumhaft sicher seine Volleys und auch Grundschläge setzte. Und der in allen wichtigen Momenten die Ruhe behielt, sich kaum Schnitzer leistete.
«Ich bin ziemlich cool geblieben. Nur im vierten Satz habe ich mal das Flattern bekommen», sagte Stachowski. Doch seine grösste Stärke an diesem Tag war, Federer nicht in seinen gewohnten Rhythmus kommen zu lassen, selbst den Takt vorzugeben auf einem Platz, der zum zweiten Wohnzimmer des Schweizers geworden war.
Federer denkt bereits an Wimbledon 2014
«Er hat das einfach gut gemacht, da gibt es gar keine Zweifel», sagte Federer hinterher. Beinahe immer lief er dem Ukrainer hinterher in den Sätzen zwei, drei und vier, war nicht die treibende Kraft, sondern der Getriebene in den Ballwechseln – gezwungen zu mühseliger Verteidigungsarbeit. Und bei den Big Points fehlte ihm diese zupackende Attitüde, die ihn immer ausgezeichnet hatte, der Extraschuss Risiko, das besondere Etwas – jene Merkmale des jahrelangen Wimbledon-Alleinherrschers.
Das Tiebreak im zweiten Satz gab er ab, verlor in der Endphase des dritten Akts seinen Aufschlag zum 5:6, und auch im alles entscheidenden Lotteriespiel des vierten Satzes war er nur der zweite Sieger – und damit dann raus aus dem grossen Grand Slam-Spiel.
Nichts wird es mit dem achten Rekordtitel, nichts auch mit den grossen Duellen in der zweiten Turnierwoche gegen Murray oder Djokovic. Aber Federer wehrte schon alle ab, die sich schon an die Nachrufe machen möchten: «Ich werde noch viele Jahre in Wimbledon spielen. Und viele Matches gewinnen.»