In Wimbledon muss Federer zuallererst sich selber finden

Der Titelverteidiger weiss, dass es nicht immer läuft wie im Märchen. Trotzdem strebt er in London seinen neunten Titel an.

Der Maestro auf seinem Lieblingsrasen: Roger Federer in Wimbledon.

In den Katakomben des Gerry Weber Stadions wirkte auf den ersten Blick alles so wie immer. Roger Federer verabschiedete sich mit einem entspannten Lächeln von den Managern des ATP-Turniers in Halle. Er sagte zur Erleichterung des Führungspersonals, dass er sich «aufs Wiederkommen nächstes Jahr» freue – und schliesslich stellte er sich auch noch einmal mit dem Maskottchen Gerry Berry zum gemeinsamen Bild auf. 

Ein bisschen aufgesetzt erschien Federers gute Laune schon, eine Spur zu demonstrativ, schliesslich war der Schlussakkord der Vorbereitungswochen keineswegs in seinem Sinne verlaufen. Der Schweizer machte im Finale das beste Turnierspiel der Woche, aber es reichte nicht für den Titelgewinn, den Pokal schnappte ihm Borna Coric weg, der 21 Jahre junge Kroate. «Ich fühle mich bei knapp 100 Prozent», sagte Federer später, er meinte das fast optimale Leistungsvermögen, das Beinahe-Maximum.

Eine Frage mit bangem Unterton

Doch Federer weiss, dass so eine Niederlage, zumal in seiner erklärten Wohlfühloase Halle, auch ein wenig Flurschaden anrichtet – direkt vor dem grössten und prestigeträchtigsten Turnier der Welt in Wimbledon. Die Frage, ob sich der 36-jährige Maestro auf den Tennis-Grün des All England Lawn Tennis Club seiner Gegner so zuverlässig und schlagsicher wie in vielen Jahren zuvor erwehren kann, wird von seiner Fangemeinde zweifellos mit etwas bangerem Unterton gestellt. 

Federer hat selbst bei den Gerry Weber Open darauf hingewiesen, dass es keinen Automatismus der Happy Ends gebe, also diese ewigen Hollywoodszenen zum Ende der Turniere, der Durchmarsch zum Pokaltriumph nach einem der diversen Comebacks: «Man kann nicht erwarten, dass sich immer alles im Märchen auflöst. Titel 98, 99, 100 kann man nicht einfach so abzählen und voraussetzen.» Womit er dann, in Halle, auch recht behielt.

Die Jungen wittern ihre Chance

Für Federer geht es in Wimbledon, wo er am Montag in Runde eins auf den Serben Dusan Lajovic trifft, um Titel 99. Es wäre auch der neunte Sieg im Theater der Tennisträume, eine «unvorstellbare Zahl», wie Federer einmal während seiner Tage bei den Gerry Weber Open betonte: «Ich habe längst mehr erreicht, als ich jemals zu hoffen gewagt hätte.» 

Worauf Federer nun setzt, ist das besondere Wimbledon-Gefühl, das ihn stets zu Höchstleistungen animierte. Selbst, wenn es anderswo nicht nach seinen Wünschen lief. «In Wimbledon ist Roger noch mal ein ganz anderer Spieler», sagt sein Trainer Ivan Ljubicic. 

Aber, wie sich auch dort, in der deutschen Provinz offenbarte: Die Konkurrenz schläft nicht. Im Gegenteil: Sie wittert ihre Chance, und zwar besonders in Gestalt der jüngeren, zunehmend couragierter und mutiger auftretenden Spieler. Corics Coup im Halle-Finale war eine Blaupause dafür, wie die Herausforderer aus der NextGen-Truppe den Rasen-König knacken wollen – und können: Konzentriert, schnörkellos, zudem abgebrüht in den wichtigen Momenten. 

Federer musste hinterher anerkennen, dass er einem Besseren unterlegen war. Der Schweizer Gras-Meister wird sicher nicht nur einen wie Coric auch in Wimbledon im Auge behalten, sondern auch Kyrgios, der ihm in Stuttgart gewaltig zusetzte. Vielleicht auch den Kanadier Denis Shapovalov, der sich sichtlich inspiriert zeigte nach dem Ausrutscher des Maestro in Halle: «Er ist auch nur ein Mensch. Er kann auch verlieren.» 

Auch Alexander Zverev darf Federer nicht vergessen bei der Risikobewertung, noch hat der Deutsche sein Potenzial nicht annähernd ausgespielt auf Rasen – was nicht heisst, dass er es nicht jederzeit und auch schon bei diesen offenen Englischen Meisterschaften des Jahres 2018 tun kann.

Wie ist die alte Garde drauf?

Hinzu kommt die undurchsichtige Lage, die sich bietet, wenn der Titelverteidiger auf die ältere Garde seiner Elitekollegen blickt – die Mitstreiter aus den Big Four oder Big Five, rechnet man Landsmann Stan Wawrinka hinzu.

Nadal, der French-Open-Sieger, hat sich allen offiziellen Verpflichtungen nach dem Paris-Triumph entzogen, von ihm sah man nur Trainingsbilder aus Mallorca. 

Djokovic, der einstige Tenniswelt-Beherrscher, steigerte sich von Spiel zu Spiel, unterlag zuletzt im Finale im Queen’s Club knapp dem Kroaten Marin Cilic. Was man dem «Djoker» in Wimbledon zutrauen kann, darüber dürfte nicht nur Federer rätseln. 

«Es geht von null los»

Auch Andy Murray wird in Wimbledon wieder im Grand-Slam-Geschäft sein, ohne dass man ihn jedoch zu den Anwärtern auf einen Lauf bis tief in die zweite Turnierwoche zählen würde. 

Bleibt noch Wawrinka, der in Eastbourne dem Kollegen Murray bitter klar unterlag und weiter nach Konstanz und richtig guter Form sucht. Nur bergen Wawrinkas Auftritte auch immer gehöriges Überraschungspotenzial.

Federer muss daran gelegen sein, in Wimbledon zuallererst zu sich selbst zu finden. In Halle wirkte er oft nervös, ungehalten, manchmal etwas fahrig. Seine Matches glichen Achterbahnfahrten: Im einen Moment demonstrierte er seine typische Klasse, und im nächsten Moment war er mit sich selbst und der Tenniswelt unzufrieden, ärgerte sich auch mal mit dem Schiedsrichter herum. 

«In Wimbledon geht aber alles von null los», sagte Federer. Von null auf hundert?

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