Die Italiener zählen bei jedem grossen Turnier zu den Favoriten. Nur dieses Jahr käme selbst bei ihnen zu Hause niemand auf diese Idee. Das Talent der aktuellen Mannschaft dürfte allerhöchstens zum berühmt-berüchtigten Catenaccio reichen.
Wenigstens bei der Inszenierung sind die Italiener immer noch unerreicht. Wo die Kadernominierung zur EM in anderen Ländern einfach bloss mitgeteilt wird, füllt sie beim Staatsfernsehen Rai ein zweistündiges Glitzerprogramm zur Hauptsendezeit. Unter dem Motto «Sogno Azzurro» – ein Traum in Blau – stiegen die 23 Auserwählten am römischen Foro Italico aus landestypischen Kleinwagen und beglückten das Publikum danach mit Gesprächen und Geschichten aus ihrem Leben. Noch mal «bella figura» machen, ein paar Sympathien sammeln, zumindest das.
Denn auch das Brimborium zur Primetime ändert ja grundsätzlich nichts an der Tatsache, dass eine italienische Spielerliste nie uninteressanter war. Im Land bestehen nicht die geringsten Zweifel an der Diagnose, dass zu dieser Europameisterschaft die talentfreieste italienische Mannschaft seit Jahrzehnten fährt.
International mag man Italien aus Angst, Gewohnheit oder schlicht Unwissenheit zu den Mitfavoriten zählen. Zu Hause käme niemand auf diese Idee. Daran änderte auch der engagierte Auftritt beim letzten Test am Montagabend gegen Finnland nichts. In Verona gab es durch einen Elfmeter von Antonio Candreva sowie einen Kopfball von Daniele De Rossi ein 2:0, zur Feier des Tages wurden auf den Rängen sogar vorübergehend die Riffs von «Seven Nation Army» angestimmt, das Lied, dem Italiens Fans bei der WM 2006 den Eingang in die Stadion-Folklore bescherten.
Damit aber ist jeder Vergleich am Ende. Vor zehn Jahren wurden Italiens Fussballer zwar nicht von Fähnchen schwenkenden Anhängern zum Zug begleitet wie am Ende der Rai-Show, sondern wegen des parallelen Manipulationsskandals mit Schimpf und Schande aus dem Land gejagt. Dafür waren sie gut genug, den Titel zu gewinnen.
Von der alten Klasse ist nichts mehr übrig
Doch man muss gar nicht mit den grössten Triumphen anfangen. Die «Gazzetta dello Sport» belässt es beim Vergleich mit der letzten Frankreich-Expedition, als Roberto Baggio und Co. die WM 1998 im Viertelfinal beendeten. «Heute sind wir eine andere Spezies», schlussfolgert Italiens Sportfibel lakonisch und präzisiert zum aktuellen Jahrgang: «Unsere Mütter haben sich eine Generation verdienter Auszeit genommen.»
Dass das Turnierkader des scheidenden Nationaltrainers Antonio Conte («Noch zwei Jahre in der Garage hätte ich nicht ausgehalten») nicht mal mit demjenigen seines Vorgängers Cesare Prandelli mithalten kann, ist jedoch auch Pech geschuldet. Bei der überraschenden Vize-Europameisterschaft 2012 konnte Italien immerhin auf das damals ungewohnt stabile Sturmduo aus Mario Balotelli und Antonio Cassano zählen; und selbst beim WM-Vorrunden-Aus 2014 noch auf ein Weltklasse-Mittelfeld aus Andrea Pirlo, Marco Verratti und Claudio Marchisio.
Nun sind Balotelli und Cassano durch, Pirlo zu alt, Verratti und Marchisio verletzt. Selbst die B-Lösung als Spielmacher, Riccardo Montolivo, musste letztlich angeschlagen passen.
Bleibt nur noch: Kampf mit Köpfchen
Trefflich lässt sich nun diskutieren, wo es schlimmer steht. In der Zentrale? Wo als einzige Alternativen von international erprobtem Format nur Thiago Motta und De Rossi bleiben, die aber vorwiegend in der Zerstörung brillieren und auch schon bessere Zeiten gesehen haben?
Oder im Angriff? Dort kämpfen um die Plätze: Simone Zaza, Stürmer Nummer vier von Juventus Turin, Graziano Pellé, Fahrensmann aus Southampton, Ciro Immobile, durchgefallen bei Borussia Dortmund und Sevilla, sowie Eder, eingebürgerter Brasilianer mit einem Tor seit Januar.
«Wir wecken keine Erwartungen, also können wir überraschen!»
Gianluigi Buffon, Torwartlegende
«Mir ist bewusst, dass uns ein Turnier mit vielen Schwierigkeiten erwartet», sagte Conte nach dem Finnland-Spiel. «Aber auch, dass ich eine Gruppe habe, die bereit ist zu kämpfen und alles für dieses Hemd zu geben.»
Am Schweiss dürfte es tatsächlich nicht scheitern, ebensowenig an taktischer Klasse: Für beides steht Conte, der seinen Ex-Club Juventus so zwischen 2011 und 2014 aus dem Mittelmass zu drei Meisterschaften in Folge trieb. Auch wenn seine Turiner Elf erst unter Nachfolger Allegri auch international reüssierte – beim Trainer ist Italien diesmal eher überdurchschnittlich besetzt. Nicht umsonst darf Conte im Sommer bei Chelsea anfangen.
Der ewige Buffon und die «Turniermannschaft»
Weitere Pluspunkte sind Torwartlegende Gianluigi Buffon und seine eingespielten Juventus-Kollegen Andrea Barzagli, Leonardo Bonucci und Giorgio Chiellini in der Abwehrkette. Auch die Aussenverteidigerposten für Contes bevorzugtes 3-5-2-System sind ordentlich besetzt.
Und dann gibt es natürlich noch den italienischen Mythos von der Turniermannschaft. Nach zwei Vorrunden-Abgängen bei den letzten beiden Weltmeisterschaften ist er inzwischen allerdings etwas überstrapaziert. Vielleicht liegt es auch daran, dass Buffon das Thema diesmal leicht variiert: «Wir wecken keine Erwartungen, also können wir überraschen», sagte er.
Italien: das Leicester der EM?
Die Medien halten es ähnlich und überbieten sich auf der Suche nach geeigneten Vorbildern seit Wochen mit Aussenseitermythen. Atlético Madrid ist populär, der Stein in den Schuhen des internationalen Geldadels, der ja vielleicht nicht zufällig einen italienisch inspirierten Fussball spielt. Oder noch besser: Leicester City, der Sensationsmeister aus England, der ja mit Claudio Ranieri auch einen italienischen Trainer hat. In Verona konfrontierte der Field Reporter der Rai den Trainer Conte gar mit Muhammad Ali und dessen berühmtem «Impossible is nothing».
Nein, unmöglich ist nichts. Sogar einen Nachfolger für Conte hat der italienische Verband nach monatelanger Suche und etlichen Absagen gefunden. Am Dienstagabend wurde er offiziell verkündet: Giampiero Ventura, 68 Jahre alt. Kein grosser Name, keiner für Chelsea. Einer für Pisa, Bari und die AC Turin, wo er zuletzt arbeitete. Einer, der gut passt zur italienischen Nationalmannschaft des Jahres 2016.