Kroatien ist ein gläubiges Land. Für Trainer Zlatko Dalic gilt das ganz besonders, er trägt immer einen Rosenkranz in der Hosentasche, an den er sich in der Not klammert.
Bei den zwei Elfmeterschiessen an dieser WM dürfte seine Hand gar nicht mehr aus der Tasche rausgekommen sein. Nur wenn Ivan Rakitic zum letzten Strafstoss antritt, dann kann selbst Dalic ganz gelassen sein. Der Mann aus Möhlin verwandelte schon zweimal atemberaubend souverän zum kroatischen Sieg.
Vor dem Halbfinal gegen England am Mittwoch in Moskau hat Dalic Rakitic deshalb eine kleine Liebeserklärung zukommen lassen. Er nannte ihn «einen Körper und eine Seele» mit Luka Modric, dem anderen Schlüsselspieler im kroatischen Mittelfeld. Und er erklärte: «Ich glaube, er ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere.»
Eine Nacht, die sein Leben veränderte
Was den Körper angeht: Eine Rolle spielt dabei eine ärztliche Diagnose über eine Gluten-Unverträglichkeit, die Rakitic letzten Sommer erhielt, wie er nun der spanischen Zeitung «El País» erzählte. «Ich fühlte mich nach Spielen oft ziemlich erledigt und erholte mich nicht so schnell. Jetzt habe ich die Ernährung komplett umgestellt.»
Auch bei einem Leistungssportler ist allerdings die Seele wohl noch wichtiger. Und um Rakitic zu verstehen, lohnt es sich, zu einer Nacht im Januar 2011 zurückzugehen. Es war die Nacht, die sein Leben veränderte und ihn letztlich auch zu dem Fussballer machte, der er heute ist.
Rakitic, so hat er es selbst in einem Beitrag für «The Players Tribune» erzählt, sass in jener Nacht mit seinem Bruder, der ihn managt, in einer Hotelbar in Sevilla. Er war noch Spieler von Schalke 04, sollte aber am nächsten Morgen beim FC Sevilla unterschreiben. Der Bruder bekam einen Anruf von einem europäischen Topklub: Man habe gehört, was anstehe, und werde jetzt einen Privatjet vorbeischicken.
Das Konkurrenzangebot war lukrativ und als nächster Karriereschritt scheinbar einfacher, denn Rakitic konnte Deutsch, Serbokroatisch, Italienisch, Französisch, Englisch – nur kein Spanisch.
Doch in seinem Kopf lief gerade ein anderer Film ab, einer, den man auf der ganzen Welt und in jeder Sprache kennt. Er hatte die Bedienung hinter der Theke gesehen und war «in dem Teil, wenn alles in Zeitlupe passiert». «Was machen wir?», fragte der Bruder. Rakitic zeigte zur Bar und sagte: «Ich werde für Sevilla spielen. Und ich werde diese Frau heiraten.»
Siebeneinhalb Jahre später telefonierte Ivan Rakitic aus Nischni Nowgorod mit seiner Frau, wahrscheinlich spielten im Hintergrund die zwei Töchter. Es war Sonntagmorgen, am Abend würde Kroatien das WM-Achtelfinal gegen Dänemark spielen. Seine Frau sagte: «Es wird Elfmeterschiessen geben. Und du wirst den Letzten verwandeln.»
Diese Prophezeiung ist bekanntlich eingetreten und hat sich im Viertelfinal wiederholt. Auch Rakitic’ Prophezeiung aus der Hotelbar ist eingetreten, wenngleich es nicht sofort danach aussah.
Jeden Morgen setzte sich Rakitic an die Bar und jedes Mal, wenn er die junge Frau sah, von der er nur wusste, dass sie Raquel hiess, «explodierte eine Bombe in mir». Er trank absurde Mengen Kaffee, auch noch, nachdem er nach drei Monaten aus dem Hotel in ein eigenes Haus gezogen war. Dummerweise sprach Raquel kein Wort Englisch, also musste er erst einmal genug Spanisch lernen, um nach einem Date zu fragen.
Er fragte einmal, dreimal, zwanzigmal. Immer erfand Raquel eine Ausrede, bis sie irgendwann offenbarte, was sie zögern liess: «Du bist Fussballer. Nächsten Sommer bist du bestimmt schon woanders.» Rakitic verstand es so: Sie denke wohl, er sei nicht besonders gut und werde bald schon wieder verkauft. Er machte sich daran, das Gegenteil zu beweisen.
Tatsächlich sollte sich Sevilla als der grosse Wendepunkt eines Spielers erweisen, bei dem das Talent schon in der Jugend des FC Basel unübersehbar war. Doch der grosse Durchbruch liess lange auf sich warten. Vielleicht lag es am notorischen Chaos bei Schalke, womöglich spielten auch ein paar eigene Flausen eine Rolle, wahrscheinlich wars eine Mischung aus beidem.
Als Rakitic 2011 nach Sevilla kam, kostete er nur 2,5 Millionen Euro. Als er den Verein 2014 wieder verliess, hatte er als einziger Ausländer ausser einem gewissen Diego Armando Maradona die Kapitänsbinde getragen und den Klub zum Sieg in der Europa League geführt. Nun fing er nicht bei irgendeinem Topklub an, sondern beim FC Barcelona. Seither ist er stets weiter gewachsen. Im Alter von 30 Jahren gehört er zu den besten und konstantesten Mittelfeldspielern der Welt.
So sagen es alle Experten. Nur von ihm selbst wird man das nicht zu hören bekommen. In seinen Statements lobt er Mitspieler wie Modric («kommt von einem anderen Planeten, um Fussball mit uns Sterblichen zu spielen»), spricht über sich selbst aber lieber als einem Soldaten seines Teams. Nach dem 3:0 gegen Argentinien, Kroatiens bisheriges Meisterstück, sagte er: «Für meine Mannschaft und meine Leute würde ich noch Tausende Kilometer rennen.» Dann machte er sich erschöpft davon, auf dem umgeschnallten Rucksack ein Foto seiner Töchter.
Rakitic ist der perfekte Teamplayer – aber wer ihn für einen Mitläufer hält, könnte falscher nicht liegen.
Dass es meistens um die anderen geht, das kennt er aus Barcelona, und er würde sich nie darüber beschweren. Es ist nicht leicht, einen höflicheren Star zu finden. Wenn er nach einem Spiel zum Interview kommt, sagt er erst mal: «Guten Abend.» Wenn seine Mannschaft gelobt wird, antwortet er: «Vielen Dank.» Er ist der perfekte Teamplayer – aber wer ihn für einen Mitläufer hält, könnte falscher nicht liegen.
Vor den beiden Elfmeterschiessen war er es, der die Truppen um sich scharte und die letzten Worte an sie richtete. Dem «Daily Telegraph» verriet er seine Worte beim Dänemark-Spiel. «Ich sagte den Jungs: ‹Luka hat uns so oft gerettet, jetzt müssen wir ihm etwas zurückgeben.› (Modric hatte in der Verlängerung einen Elfmeter vergeben, d. Red.). Zum Goalie Danijel Subasic sagte ich: ‹Geniess es, denn es wird dein grosser Moment sein.›» Der Keeper parierte drei von fünf dänischen Penaltys. Als Letzter kam jeweils Rakitic. Er kippte im letzten Moment den Fuss, verlud damit den Keeper und schob ein.
Es war so, wie es seine Frau vorhergesagt hatte. In Rakitic’ Umfeld heben sie ihre positive Energie hervor, die sich mit seiner Neigung paart, sich in allen Situationen zurechtzufinden. Als er in Sevilla spielte, sprach er sein längst ausgezeichnetes Spanisch mit andalusischem Akzent, in Barcelona hat er sich diesen ziemlich abgewöhnt.
In Sevilla war er der Chef der Mannschaft und Regisseur hinter den Spitzen, in Barcelona (wie bei Kroatien) spielt er weiter hinten und arbeitet viel für die anderen. Barças hauseigene Fussball-DNA hat er trotzdem schnell verinnerlicht. Als erster Neuzugang seit Jahrzehnten konnte er sich über Jahre einen Stammplatz in jener Zone des Spielfelds sichern, aus der Barças so spezieller Fussballstil kommandiert wird.
Lebensintelligenz und Anpassungsfähigkeit, das Talent, sich überall auf der Welt zu Hause zu fühlen – auch damit werden die Erfolge von jugoslawischen und postjugoslawischen Sportlern gerne erklärt. Im Fussball ist Kroatien der stärkste Vertreter. In der Geschichte von WM-Viertelfinals konnten nur Uruguay und Wales aus einer kleineren Bevölkerung schöpfen als die Kroaten mit ihren rund 4,2 Millionen Einwohnern – plus Auswanderern oder Auswandererkindern wie Rakitic.
Weiter Geschichte schreiben
Dass er sich einst für Kroatien entschied, obwohl er in der Jugend noch für die Schweiz spielte, wurde ihm in der Schweiz lange übel genommen. Doch für Rakitic zählte auch die Erinnerung an die WM 1998, als die Generation um den heutigen Verbandschef Davor Suker und sein Vorbild Robert Prosinecki das Halbfinal erreichte und die junge Nation wenige Jahre nach Kriegsende vor Stolz schier platzen liess.
Wenn er heute über das Thema spricht, ist ihm das diplomatische Bemühen anzumerken. «Die Partie, die ich am wenigsten in meinem Leben genossen habe» nannte er gegenüber «El País» ein Spiel mit der Schweizer U17 gegen Kroatien. «An diesem Tag wurde mir klar, dass etwas nicht stimmt. Aber ich hätte auch nicht gern gegen die Schweiz gespielt. Sie ist mein Zuhause. Ich bin ein grosser Fan der Schweizer Nationalmannschaft, ich war sehr traurig über ihr Ausscheiden. Jetzt hoffe ich, dass alle Schweizer zu mir und zu Kroatien halten.»
Kroatien will gegen England nun weiter «unsere Geschichte schreiben», wie Rakitic sagt. Und mit guten Storys, da kennt er sich ja aus.