Der FC Liverpool sehnt sich nach Titeln. 2005 gewannen die Reds die Champions League, im Basler St.-Jakob-Park ist am Mittwoch der Europa-League-Erfolg in Reichweite. Gegen den FC Sevilla könnte sich eine Vorahnung des Trainers Jürgen Klopp bewahrheiten – früher als erwartet.
Der Aberglaube des FC Liverpool hat dafür gesorgt, dass Jürgen Klopp seinen Vertrag im vergangenen Oktober im selben Sitzungssaal auf der sechsten Etage eines Designerhotels in Liverpool unterzeichnete wie Rafael Benitez, der dem Club mit dem Champions-League-Sieg 2005 den bislang letzten grossen Titel bescherte. Das noble Etablissement befindet sich im Stadtteil Canning in der Hope Street, einer Gegend, die stellvertretend für die Modernisierung Liverpools steht.
Durch die Anbindung ans Meer erlangte die Metropole eine zentrale Bedeutung im Welthandel. Als die Schiffe irgendwann als Transportmittel weitestgehend abgelöst wurden und nicht mehr regelmässig in der Hafenstadt andockten, musste sich Liverpool rundum erneuern, um weiterhin ein Anziehungspunkt zu bleiben. Eine Fahrt aus dem Stadtkern hinaus an die Anfield Road offenbart die Baustellen. Strassen und Gebäude werden renoviert, das neue Trendviertel, das Aufbruch und Lebendigkeit in sich trägt, ist hingegen schon fertig.
Die schicken Lokalitäten und sehenswerten Bauten liegen rund um das Hotel, in dem Klopp seine Amtszeit begonnen hat. Mittlerweile hat der deutsche Trainer ein anderes Zuhause an der Mersey gefunden, mit seinem Team quartiert er sich jedoch weiterhin vor jedem Heimspiel an der Hope Street ein.
Die fortgeschrittene Entemotionalisierung der Fans
Die Strasse der Hoffnung soll den FC Liverpool zur ersten englischen Meisterschaft seit 1990 führen, der Weg hält für den Club erstmal das Europa-League-Finale in Basel gegen Titelverteidiger FC Sevilla bereit. Europacup-Abende sind in Liverpool schon immer geschätzt worden, fünf Triumphe der höchsten Güteklasse stehen auf der Visitenkarte der Reds – kein anderer englischer Club hat ähnlich viele vorzuweisen.
Diesen Geist hat Jürgen Klopp in seiner ersten Saison wiedererweckt durch das Erlebnis «Anfield» beim 4:3 über seinen ehemaligen Verein Borussia Dortmund im Viertelfinal. Der Legende nach besitzt dieses Stadion mit seinen Zuschauern eine Urkraft, die schier unmögliche Aufholjagden inszenieren kann. Nach dem Abgang von Benitez 2010 ist es jedoch ruhig geworden um diesen Mythos, weil Liverpool meistens international gar nicht vertreten war.
Feiernde Liverpooler – Villarreal ist der Gegner im Halbfinal, auch diese Hürde meistern die Reds. (Bild: Reuters/Lee Smith)
Für Klopp war die fortgeschrittene Entemotionalisierung bei den Fans ein Zuspiel in den Strafraum, das er mühelos verarbeitete. Wie kein anderer Trainer in England kann der gebürtige Schwabe Medien, Verein und Anhängerschaft mit einer Mischung aus trockenen Bonmots auf den Pressekonferenzen und leidenschaftlichen Ausbrüchen am Seitenrand unterhalten und begeistern. Am liebsten würde die ganze Stadt ihre Mannschaft nach Basel begleiten, immerhin konnten etwa 10’000 Liverpudlians eine Eintrittskarte ergattern.
Der Hype um Klopp verflachte noch vor Weihnachten
Der zu Beginn jäh einsetzende Hype um Klopp, den der Club zusätzlich befeuerte, indem er sein Konterfei auf nahezu jeden Fanartikel abdruckte, verflachte vor Weihnachten. Fast eine Startelf meldete sich verletzt ab, die Ergebnisse waren durchschnittlich.
Liverpool praktizierte bei einigen sehenswerten Auswärtserfolgen (darunter ein 4:1 bei Manchester City) den Spielstil, der Klopp einst bei Borussia Dortmund zu zwei Meisterschaften und einem Pokalsieg verholfen hatte. Die Spieler jagten dem gegnerischen Ballbesitz nach wie Hunde, die ein rohes Stück Fleisch wittern. Das ständige Drangsalieren und die hohe Geschwindigkeit, mit der sich die Reds nach Balleroberung dann selbst nach vorne kombinieren wollten, laugte jedoch das Team aus: In der Liga mühte sich die Mannschaft vergeblich, den Punkterückstand zur Spitze aufzuholen, den Brendan Rodgers seinem Nachfolger als Altlast übergeben hatte. Letztlich reichte es nur zu Rang acht.
Durch einen Triumph in der Europa League könnte sich Liverpool nachträglich einen Startplatz in der Champions League sichern. Ein Pokerspiel. Die hohe Frequenz an Partien hat das Team nie weggesteckt; kein anderer europäischer Verein hat in dieser Saison mehr gespielt als Liverpool.
Klopp emanzipiert sich vom Dortmunder Spielstil
Am auffälligsten trat der Substanzverlust im Endspiel um den Ligapokal in Erscheinung, als Klopps Kämpfer sich ins Elfmeterschiessen retten mussten – drei von vier Spielern scheiterten. Seitdem hat eine Entwicklung eingesetzt, in der sich das Trainerteam von seiner früheren Spielweise emanzipiert. Beim 4:0 im Stadtderby gegen Everton fand Liverpool im Spielaufbau Lösungswege, die zuvor in dieser Masse nicht gesichtet wurden. Das schafft nicht nur eine bessere Balance im Spiel, sondern bringt die Offensivgeister um den ehemaligen Bundesliga-Profi Roberto Firmino in Positionen auf dem Feld, in denen sie ihre Spielkunst vor dem gegnerischen Tor beweisen können.
Jürgen Klopp mit Dejan Lovren – Emotionalität: stimmt. (Bild: Reuters/Phil Noble)
Das flache Kombinationsspiel im Angriffsdrittel besticht durch Flexibilität und Unberechenbarkeit. Einmal halten sich die Aussenbahnspieler an der Seitenlinie auf, wenn sie dann in die Mitte einrücken, können sie aus dem Nichts heraus dem Spiel eine Beschleunigung geben. In Mediengesprächen liess Klopp durchblicken, dass ihm die blosse Reduzierung seiner Arbeit auf das Spiel gegen den Ball missfällt.
Die Zuversicht des Jürgen Klopp
Sein Status als «Heilsbringer» im Club bietet ihm die Möglichkeit, bei seinen Entscheidungen keine Rücksicht nehmen zu müssen. Den erst im Sommer 2015 von Aston Villa für 45 Millionen Euro verpflichteten Stürmer Christian Benteke sortierte er aus, weil dessen fehlende Arbeitsethik nicht zu den eigenen Ideen passt. Keiner aus der Chefetage in Liverpool hat dabei den Finger gehoben und auf Bentekes Marktwertverlust hingewiesen. Eine gezielte Transferstrategie, die Klopp beim BVB nachgewiesen hat, könnte den Club an anderen vorbeiziehen lassen.
In den vergangenen fünf Jahren war das nicht der Fall, die Liverpudlians verpflichteten 50 Spieler. Der erhoffte Erfolg blieb aus, den Jürgen Klopp bei seiner Präsentation versprochen hatte. «Wenn ich in vier Jahren hier sitze, bin ich ziemlich zuversichtlich, dass wir eine Trophäe gewonnen haben», sagte er. Das könnte schon am Mittwochabend in der Europa League passieren, wenngleich das dann nicht der Titel wäre, nach dem sich der FC Liverpool sehnt.