Kariem Hussein: «So wacklig hatte ich mich noch nie gefühlt»

Kariem Hussein gewinnt über 400 m Hürden mit einem Toprennen in Zürich den EM-Titel, erst den fünften überhaupt eines Schweizers. Nach dem Sieg konnte der Thurgauer sein Glück kaum fassen.

«Es war einfach da»: Kariem Hussein bei der Siegerehrung im Letzigrund. (Bild: Keystone)

Kariem Hussein gewinnt über 400 m Hürden mit einem Toprennen in Zürich den EM-Titel, erst den fünften überhaupt eines Schweizers. Nach dem Sieg konnte der Thurgauer sein Glück kaum fassen.

Keine Zeitung, kein Fernsehen, sich emotional bewusst dämpfen, so beschrieb Kariem Hussein nach dem Rennen seine Strategie im Umgang mit der eigenen Psyche. «Cool bleiben», hiess es für den 25-Jährigen Langhürdenläufer vor seinem wichtigsten bisherigen Rennen. Es nutzte bedingt: «Ich war an diesem Finaltag so etwas von nervös», sagte er, «so sensibel, ich hatte so wacklige Beine wie noch nie.» Doch als es ernst galt, war der Sohn eines Ägypters und einer Schweizerin voll konzentriert, voll präsent. Verinnerlicht hatte er, dass «alles wieder von vorn beginnt». Und, «dass alles möglich ist». Ein eindrückliches Rennen legte er auf die Bahn – und siegte in 48,96 Sekunden.  

 

Bei der Siegeszeremonie liefen dem Ex-Fussballer (bis 19) die Tränen die Wangen hinunter. Später sagte er immer wieder: «Ich fasse nicht, was da Wirklichkeit geworden ist. Ich kann’s noch immer nicht glauben.» Keine Worte fand Trainer Flavio Zberg: «Ich realisiere nicht, was das vor sich gegangen ist, kann das Rennen nicht wirklich analysieren.» Das Wort abartig nannte er, als eine Art Supersuperlativ. Aber, und das wollte Zberg betont wissen: «Für möglich gehalten hatten Kariem wie ich diesen Titelgewinn immer, wir glaubten daran.» Und irgendwie bezeichnend dabei: Geredet hat das Athleten-/Trainergespann zusammen nie über diese Vision, dieses hohe Ziel. Es war «einfach da, immer da».

Erstaunlich aber, wie Hussein mit diesem Druck, auch dem eigenen, umgegangen ist. Eine überzeugende Erklärung hatte er sofort bereit: «Ich bin mir solche Situationen gewohnt, gerade im Medizinstudium lastet bei den Prüfungen ein viel stärkerer Druck auf mir.»

Schelberts Prognose

Die Spannung hatte schon Minuten vor dem Start in der Luft gelegen. 48,62 Sekunden – diese Zeit sagte wenige Minuten vor dem Finalrennen über 400 m Hürden Marcel Schelbert, der Schweizer Rekordhalter und WM-Dritte von 1999 auf der Zieltribünen voraus – und: «Den Rang musst du prognostizieren.»

Wenig später ein tosender Applaus bei der Athletenpräsentation. Dann Stille. Ein «Allez Kariem» tönte es quer durchs Stadion. Das Startkommando. Und Kariem Hussein, der Schweizer Hoffnungsträger legte los, lief schneller an als im Halbfinal, aber alles andere als kopflos. Mitte der Schlusskurve kam er den Führenden immer näher. Auf die Zielgerade bog er als Erster ein und hielt durch. 48,96 leuchtete auf, und Hussein zuoberst im Klassement – ein denkwürdiger Augenblick für diese Titelkämpfe, für die Schweizer Leichtathletik. Dass er erstmals in seiner noch jungen Karriere die 49-Sekunden-Grenze unterbieten konnte (von bisher 49,08) spielte in diesem Augenblick eine völlig nebensächliche Rolle. Einen Zehntel hatte er dem zweiten Rasmus Mägi (Est) abgenommen, zwei Zehntel dem dritten Denis Kudryavtew (Rus). Es war eine sehr enge Entscheidung.

Was es da zu sagen gebe, fragte Stadionspeaker Andreas Schelbert. Einen Freudenschrei stiess Hussein aus, und mit etwas zeitlicher Differenz: «Ich erreichte die zweitletzte Hürde, spürte die Unterstützung Tausender und verstand es, die letzten Reserven freizulegen», sagte Hussein unter tosendem Applaus zu Schelbert, sinnigerweise früher selber 400-m-Hürdenläufer und Bruder von Rekordhalter Marcel Schelbert.  Zuvor hatte er sich auf die Bahn gekniet, den Kopf hingelegt und den Fotografen ein passendes Sujet geliefert.  

Den Fussballer vergessen gemacht

Hussein ist ein seltenes Phänomen in der Schweizer Leichtathletik. Er ist Quereinsteiger. Erst vor fünf Jahren wechselte er vom Fussball zur Leichtathletik und zwar, weil er nicht alleine auf den Sport setzen wollte, sondern gleichzeitig ein Medizinstudium aufnehmen wollte. Diesem Weg ist der 25-jährige Thurgauer aus Tägerwilen bis jetzt gefolgt. Trotz dieser Doppelbelastung glückte ihm ein imponierender Aufstieg, bei dem er sich auch durch eine Stressfraktur unmittelbar vor seinem Olympia-Debüt vor zwei Jahren in London nicht nachhaltig hat bremsen lassen. Und für Husseins Klasse spricht ebenso, dass er sich durch die Konkurrenz nicht hat irritieren lassen, die im Halbfinale ganz gross auftrumpfte – zum Teil mit klar besseren Zeiten als er jetzt im Finale – und die Position als Nummer 7 imponierend nutzte. 

Das Siegerinterview von SRF:

Nächster Artikel