Im 20. Spiel gegen Andy Murray unterliegt Stan Wawrinka zum 20. Mal. Der Schweizer wehrte sich und blieb doch chancenlos und bleibt der Tennis-Crack mit den zwei Gesichtern.
Artig verbeugte sich Stan Wawrinka noch einmal vor allen Zuschauerblöcken in der O2-Arena, nahm den Höflichkeitsapplaus der 17’500 Fans entgegen. Doch kaum war er aus dem Hallenpalast herausmarschiert, war er auch schon Geschichte bei dieser Tennis-Weltmeisterschaft des Jahres 2016.
Auf der Zielgeraden der Saison, beim Championat der acht Besten, konnte Wawrinka nicht ein letztes Mal in seiner Paraderolle als Wundermann brillieren – im letzten Gruppenspiel blieb die Hackordnung gewahrt: Andy Murray, der Weltranglisten-Erste und Lokalmatador, katapultierte den US Open-Champion mit einem glatten 6:4, 6:2-Sieg aus dem Pokalkampf und hielt sich selbst alle Hoffnungen auf einen ersten WM-Titel aufrecht.
Drei Mal hatte Wawrinka in der Vergangenheit zum Saisonende das Halbfinale erreicht, gern auch in der Rolle des Comebackers nach verpatztem Start, nun aber scheiterte er am Mann der Stunde, am Mann dieses Herbstes, vielleicht sogar noch am Mann des ganzen Tennisjahres – an eben jenem Braveheart Murray, der auch in London wie auf einer Mission unterwegs zu sein scheint. «Ich habe es geschafft, Stans mächtiges Spiel zu unterdrücken», sagte Murray, der an diesem Samstag im Halbfinale (um 15 Uhr MEZ) auf Kanadas Kanonier Milos Raonic trifft. Das zweite Halbfinale bestreiten abends ab 21 Uhr Novak Djokovic (Serbien) und der Japaner Kei Nishikori.
Stanislas Wawrinka ist sich auch 2016 treu geblieben. Er hat seinen Ruf als unberechenbarster aller Elitespieler im Tenniskosmos mit, je nach Sichtweise, irritierender oder bestechender Konsequenz gewahrt – mit dem famosen Grand Slam-Coup in New York im September, aber eben auch mit manchen schwer nachzuvollziehenden Pleiten und Pannen am Arbeitsplatz. Diese zwei Gesichter zeigte Wawrinka hartnäckig auch in London, beim grossen Saisonabschlussfest der Branche. Rätselhaft schwach in der Auftaktpartie gegen Nishikori, danach stark und couragiert gegen Cilic. Und schliesslich stark und schwach zugleich über die 87 Minuten des letzten Matches gegen Murray.
Es war, alles in allem, nicht genug an Substanz, die Wawrinka aufbrachte, um noch im Halbfinale oder gar um den Titel mitspielen zu können. Wawrinka wird das Jahr als Nummer 4 beenden, es gibt keinen Grund für Unzufriedenheit, erst recht nicht nach dem späten Volltreffer bei den US Open. Aber immer, wenn es bei Wawrinka an die Bilanz und Bewertung eines Jahres geht, schwingt auch die Frage mit: Was könnte dieser Mann erreichen, wenn er sein ganzes mächtiges Potenzial über viele Wochen und Monate hielte?