Fans der Muttenzerkurve haben einen Film produziert. «Lutstargg» ist ein Dokument, das alle Vorurteile über Fussballfans clever unterläuft.
Es ist eine Sequenz von wenigen Sekunden, doch sie steht für die Haltung des ganzen Werkes (mehr Infos über die Verbreitung etc. hier). Im Zusammenhang mit einem Auswärtsspiel des FC Basel in München macht das Gerücht die Runde, ein Lkw, randvoll mit Pyromaterial, folge den gefährlichen Basler Fans heimlich. So müssten diese die verbotene Ware auf der streng bewachten Reise nicht auf sich tragen. Der Sprecher des Films «Lutstargg» hält mit seiner Enttäuschung nicht zurück. Doch nicht die abstrusen Gerüchte an sich lassen ihn verzweifeln, sondern die Tatsache, dass sogar die «Süddeutsche Zeitung», «eigentlich eine renommierte und seriöse Zeitung», sie verbreitet.
Mit «Lutstargg», einem fast zweistündigen Film der Fangruppierung «Inferno», sind die Wilden und Lauten aus der Muttenzerkurve in der Gegenwart angekommen. Lebten frühere Werke aus derselben Küche noch stark vom Abfeiern eigener Heldentaten und der Pflege des schlechten Rufs, ist vom Autismus und Nihilismus früherer Jahre heute nicht mehr viel übrig. «Lutstargg» zeigt: Die gefürchteten Ausserirdischen von einst haben Kontakt aufgenommen. Sie haben gemerkt: Es gibt noch eine Welt ausserhalb der unseren. Und wir stehen zu ihr in einer Wechselwirkung, ob uns das gefällt oder nicht.
Ein Film über das Älterwerden
In schnellen Schnitten fegt der Film durch halb Europa, feiert Verschwendung und Überschwang in fast unwirklich scheinenden Choreografien, singt sich durchs Repertoire, blendet hundertfach mit Feuerwerk und zeigt Angela Merkel als Kandidatin, die ihre Stimme sucht gegen tausend unerwünschte Gäste.
Und zwischendurch wird angehalten, fürs Wesentliche. Von der ruhigen Offstimme wird dem Zuschauer erklärt, was wirklich war in jener Saison, an jenem Spieltag, auf jener Auswärtsfahrt. Es wird aufgelistet und eingeordnet, ohne Rücksicht und Vertuschung: Die antisemitischen Gesänge, die es in die «Rundschau» schafften, die Fackeln, die aufs Feld flogen, der 13. Mai, der 11. Mai, das Schisma wegen Mladen Petric, es ist alles da. Was war? Und was haben wir daraus gelernt? Davon lässt sich «Lutstargg» leiten, auf uneitle Art; es sei auch ein Film über das Älterwerden, heisst es im Klappentext.
Wie sehr die Fans in der Welt, in der Zeit angekommen sind, zeigt bereits das Intro zum DVD-Menü. Auf dem Landhof wurde dazu eigens ein Kurzfilm gedreht, in aufwendigem Gewand der 1970er-Jahre, mit dem 90-jährigen Otto Rehorek am stilechten Mikrofon und einem zufrieden lächelnden Bernhard Heusler im Hintergrund. Die beiden Männer wirken wie eine Klammer, von der guten alten zur guten neuen Zeit. Dass sie sich einspannen liessen, sagt einiges: über gegenseitiges Vertrauen, gegenseitigen Respekt und den unbedingten Glauben, dass der FCB von seinen Fans nicht zu trennen ist. Schon gar nicht von seinen sogenannten.
«Lutstargg» begegnet dem Verein und all seinen Menschen (mit einer Ausnahme) behutsam. Von der Selbstinszenierung, die manch moderner Fankurve zum Vorwurf gemacht und damit genug oft auch zum Verhängnis wird, ist wenig zu spüren. Aus Bild und Ton spricht eine kritische Gelassenheit, die sich am schönsten in einem Zwinkern gegen YB niederschlägt: kurz ist es, fast zärtlich, und ohne Häme. Hätte man es gern pädagogisch, man könnte sagen: Hier geht jemand verantwortungsvoll mit seiner Rolle als Klassenprimus um.
Positives, Seltsames, Durchgeknalltes
Als Einblick in die Welt der Fans ist «Lutstargg» von unschätzbarem Wert. Und dies nicht wegen all der oppulenten, farbenfrohen Auftritte, die von Leuten hinter zu grossen Bürotischen gern als «positive Fankultur» gepriesen werden, sondern weil eben all das andere auch zu sehen ist: das nicht so Positive, das Seltsame, das Durchgeknallte. «Lutstargg» hilft, einige Dinge besser zu verstehen. Und führt dazu, dass man einige noch viel weniger versteht als zuvor.
Es ist kein Film der Aha-Erlebnisse, kein Film der abschliessenden Antworten. Aber einer, der es dank unbekannten Aufnahmen und unerwarteten Schnitten schafft, dass der «Kessel von Altstetten» oder der 11. Mai 2011 im Gespräch bleiben. Gewalt von Fans, von Fans normalerweise totgeschwiegen, kommt in «Lutstargg» selbstverständlich vor: Wenn man nicht organisiert ist, wird man von den Zürchern durch die Stadt gejagt. Das ist zu hören, und es ist zu sehen. Eine Wertung fehlt. Das führt uns zurück zur erwähnten Episode mit dem Pyro-Lkw und der «Süddeutschen»: «Lutstargg» will kein PR-Film in eigener Sache sein. Man stört sich nicht an Widerspruch, man erwartet Kritik. Nur sachlich soll sie sein.
Einiges war zu lesen über die Welt der Fans in den Jahren zwischen 2004 und 2012, die der Film beleuchtet. Viel Schlechtes, gerade in den vergangenen zwölf Monaten auch zunehmend Differenziertes. Es ist das Verdienst der Fans, mit einem Dokument aus den eigenen Reihen den wohl klarsten und erhellendsten Beitrag zu liefern, der hierzulande zum Thema bisher erschienen ist.
«Lutstargg» übrigens nennt keinen Regisseur und keinen Absender. Typisch, ja. «Lutstargg» nennt aber auch keinen Preis. «Me gitt, was me wott», ist zu lesen. Typisch, eben auch das.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 21.12.12