Ein Fussballlehrer ohne grosses Renommee hat die AS Monaco in die Semifinals der Champions League geführt. Der 42-jährige Portugiese Leonardo Jardim ist nicht einer der grossen Kommunikatoren und Verführer der Branche, sondern kommt mit komplexen Erklärungen seiner Arbeit eher wie ein Professor daher.
Stille Wasser können sehr tief sein, sagt man. Zum Beispiel über den Fussballtrainer Leonardo Jardim, der als leise und zurückhaltend gilt und auf den ersten Blick gar eigenschaftslos daherkommt. Wer heutige Starcoaches nicht zuletzt als Verführer und Verkäufer schätzt, als Kommunikatoren und Manipulatoren, der muss vom Übungsleiter der AS Monaco zwangsläufig enttäuscht sein.
An Polemik ist allenfalls ein kindisches Wortgefecht mit Arsène Wenger um einen verweigerten Glückwunsch nach einem Champions-League-Match vor zwei Jahren überliefert. Aber so etwas bekommt mit dem grummeligen Arsenal-Veteranen inzwischen ja fast jeder hin.
Rückspiele: 9./10. Mai; Final: Sa, 3. Juni in Cardiff | Die Champions League bei uefa.com | |
Die Halbfinals der Champions League 2016/17 | |
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Real Madrid–Atlético Madrid | 3:0 |
AS Monaco–Juventus Turin | 3. Mai |
Es liegt also wirklich allein an seiner Arbeit, wenn Jardim, 42, jetzt unter anderem als Nachfolger von Wenger im Gespräch ist. Mit Monaco steht der Portugiese kurz vor dem Gewinn der französischen Meisterschaft und heute im Champions-League-Halbfinal gegen Juventus Turin. Seine Mannschaft hat diese Saison allein in der Liga schon 95 Tore geschossen, das dynamische, überschwängliche Spiel von Youngstern wie Tiemoué Bakayoko, Bernardo Silva, Thomas Lemar oder dem 18-jährigen Wunderkind Kylian Mbappé begeistert den Kontinent.
» Und wieder eine Ronaldo-Show: Real Madrids 3:0 gegen Atlético
«Angriffsfussball ist unsere DNA», sagt Jardim, und auch wenn diese rhetorische Anleihe in der Genetik inzwischen zu den Standardphrasen der Branche gehören mag, passt sie zu ihm doch ziemlich gut: Jardim versteht sich durchaus auf den wissenschaftlichen Zugang zum Fussball.
Inspiriert von der Komplexitätslehre Morins
Profi war er jedenfalls nie, seine erste Mannschaft trainierte er im Handball und bevor er sein erstes nennenswertes Team übernahm, hatte er bereits eine Fussballakademie auf Madeira gegründet. Dort wuchs er auf, wie Cristiano Ronaldo, nachdem er während eines Auslandsaufenthaltes der Eltern in Venezuela geboren wurde, und dort besuchte er die Universität, wie anderswo seine Landsleute Fernando Santos, der Europameistercoach, José Mourinho oder André Villas-Boas, die in jungen Jahren ebenfalls keine Spitzenfussballer, sondern Studenten waren. Die portugiesische Trainerschule unterscheidet sich schon lange durch ihren theoretischen Touch und ihren ganzheitlichen Ansatz. Nun hat sie ihren konsequentesten Vertreter gefunden.
Jardim fährt zum Nachdenken gern in die Hügel über Monte Carlo, zieht als Lektüre wissenschaftliche Fachzeitschriften der Sportpresse vor und nennt Intellektuelle wie den französischen Philosophen Edgar Morin und dessen Komplexitätslehre als Inspiration. Wenn er begründen will, warum er selbst Konditionstraining mit Ball durchführen lässt, dann sagt Jardim: «Das Spielfeld ist das natürliche Habitat des Fussballers und der Ball gehört immer in den Mittelpunkt seiner Aktivität.»
Verheiratet mit einer Psychologin, bezeichnet er sich als «Anhänger des Konzepts der ökologischen Methodologie». Einen technisch veranlagten Spieler mit übermässig viel Muskelaufbau zu traktieren, sei so riskant wie die Begradigung eines Flussbettes: «Du kannst das ganze Ökosystem zerstören, die Fische können verschwinden, die Algen können sterben.»
Aus Defensivfussball wuchs eine Tormaschine
In Frankreichs Fussball, besessen von der physischen Ausbildung der Spieler, kam er damit nicht auf Anhieb gut an, als er 2014 von Sporting Lissabon zu Monaco wechselte. Dazu belustigten sich die Franzosen mit ihrem berüchtigten Sprachsnobismus über seinen Akzent, Jardim avancierte zum Dauergast im Satire-Clipping-Programm «Petit Journal». Vor allem aber irritierte der defensive Fussball seiner Elf – bis zu einem Punkt, an dem die Monaco-Fans bei Anpfiff des Ligacup-Halbfinales aus Protest das eigene Stadion verliessen. Sie verpassten nichts: wie etliche Partien seiner ersten Saison endete auch diese 0:0, das Elfmeterschiessen ging verloren.
Angesichts der 95 Tore – schon jetzt 44 mehr als in seiner Debütsaison – erscheinen solche Anekdoten jetzt wie aus einer grauen Vorzeit. Jardim würde jedoch bestreiten, seine Philosophie geändert zu haben. Als «Realist» bezeichnet er sich selbst: «Ich passe mich dem Kontext an und arbeite mit dem, was ich habe.»
Dieser Pragmatismus sei ein Markenzeichen der Trainer aus der Auswanderungsnation Portugal, und er erlaubte ihm vor drei Jahren eben nur Ergebnisfussball, nachdem Monacos Oligarch Dimtri Rybolowlew unter dem Druck des Financial Fairplay seine Privatschatulle geschlossen hatte. Jardim nahm es klaglos hin, widmete sich der Aufbauarbeit, identifizierte die Lücken und hat das Feld nun so gut bestellt, dass er attackieren lassen kann.
Kleine Trophäen für den Talentveredler
Zu seinen klarsten Trainerleistungen zählt die Konversion des einstigen Aussenverteidigers Fabinho in einen exzellenten Sechser vor der Abwehr. Monaco überzeugt durch Harmonie zwischen taktischer Ordnung und Freiheit, die Spieler loben seine gute Beobachtungsgabe und konstruktive Kritik, und sein Händchen für die Entwicklung von Talenten ist nicht zu übersehen.
Nichts macht Jardim stolzer, von inzwischen verkauften Spielern wie Yannick Carrasco (Atlético Madrid) oder Geoffrey Kondogbia (Inter Mailand) liess er sich sogar die neuen Trikots besorgen. «Meine kleinen Trophäen» nennt er sie, Leonardo Jardim, der Biobauer, der mit den Jahren immer besser wird, weil seine Arbeit nicht auf Verführung basiert, sondern auf tiefen Wurzeln.