Mit demonstrativer Selbsterneuerung kämpft der Ringer-Weltverband gegen das drohende Olympia-Aus. Trendige Sportarten machen einer olympischen Ur-Disziplin Beine. Ob mit Erfolg, weist sich in St. Petersburg vor der IOC-Exekutive.
Neue Varianten bringt der Ringer bevorzugt ins Spiel, wenn er einen Rückstand kurz vor Ende des Duells noch zu seinen Gunsten drehen will. So betrachtet, handelt Nenad Lalovic in diesen Tagen ganz im Sinne seines traditionsreichen Sports. Seitdem der 55-jährige Serbe die Federation Internationale des Luttes Associées (Fila) in Corsier-sur-Vevey anführt, staunen Beobachter über die innovativen Kniffe, mit denen im Weltverband so manche Regeln und Struktur mit sofortiger Wirkung erneuert werden.
Von heute auf morgen gibt es nun mehr Gewichtsklassen für Frauen, mehr Mitsprache für ehemalige Aktive und überarbeitete Regularien, die das Geschehen auf der Matte transparenter und damit attraktiver machen sollen. Lalovic muss unbedingt punkten, um im Wettbewerb zu bleiben. Und es ist höchste Zeit.
In St. Petersburg erhält das Ringen eine letzte Chance
Im Februar hat das Internationale Olympische Komitee (IOC) empfohlen, das Ringen aus dem offiziellen Programm der Spiele in 2020 zu nehmen. Das war eine knallharte Warnung, wenn auch noch kein Verweis: An diesem Mittwoch erhält der Verband ebenso wie die Vertreter von sieben Neubewerbern die Gelegenheit, sich vor der IOC-Exekutive in St.Petersburg zu präsentieren. Die gewichtigen Herren der Ringe werden eine Shortlist der besten Kandidaten für die endgültige Entscheidung erstellen, die zum September bei der Vollversammlung in Buenos Aires bekannt gegeben wird.
Es habe wohl diese Drohung gebraucht, «damit wir in Aktion geraten», gesteht Lalovic. Der trotz der massigen Erscheinung eher unprätentiöse Funktionär war quasi über Nacht zum kommissarischen Nachfolger des unbeweglich herrschenden Schweizers Raphael Martinetti ernannt worden, bevor ihn ein ausserordentlicher Kongress am 18.Mai mit 125 von 132 Stimmen endgültig bestätigte.
Hinter Trendsportarten stehen Ausrüster-Industrien
Seither verändern sich die Dinge in rasantem Tempo, damit der Menschheit ältester Sport «aufregender» und «besser nachvollziehbar» (Lalovic) wird. Schliesslich müssten sie das IOC «davon überzeugen, dass wir Fortschritte gemacht haben. Und dann müssen wir sie davon überzeugen, dass wir weitere Fortschritte machen werden.»
In Moskau hat der studierte Maschinenbauer die Delegierten aus 111 Nationalverbänden mit seiner Klartext-Rhetorik problemlos für seinen Schnellkurs gewinnen können. Er überzeugte durch seinen leidenschaftlichen Hinweis auf «Entscheidungen, die den Sport in den nächsten fünfzig Jahren beeinflussen» würden. Und durch jene denkwürdigen Briefumschläge, die er verteilen liess: Aus ihnen könnte jeder ersehen, wer ab jetzt für die Umsetzung des neuen Geistes im Verband verantwortlich ist. Wer das Kuvert öffnete, sah sich durch einen kleinen Spiegel mit sich selbst konfrontiert.
Das hat in der Summe auch dem amtierenden IOC-Präsidenten Jaques Rogge imponiert. Der neue starke Mann mache «einen exzellenten Job», bescheinigte der Belgier auf Anfrage des Ringer-Portals «aroundthering». Die netten Komplimente aus dem gut 20 Kilometer entfernten Lausanne sind jedoch kein Hinweis auf etwaige Präferenzen. Zumal sich für 2020 trendige Disziplinen wie das Sportklettern, Wakeboard und Rollschuhsport bewerben, hinter denen veritable Ausrüster-Industrien stehen. «Ich bin zuversichtlich», sagt Lalovic, räumt jedoch ein: «Ich bin auch nervös.»
USA und Iran für ein gemeinsames Ziel
Es war ein Aufschrei durch die globale Öffentlichkeit gegangen, als die Planspiele des IOC bekannt wurden. Vom russischen Präsidenten Wladimir Putin bis zum US-Romancier John Irving, der als Junior auf der Matte stand, wurden sie einhellig als Kulturverbrechen gegeisselt. Olympiasieger gaben erbost ihre Medaille zurück, Verbände sammelten Hunderttausende von Unterschriften.
In New York massen sich kürzlich amerikanische und iranische Ringer unter dem Dach der Grand Central Station, um über alle Systeme und Kulturen hinweg Einigkeit und Widerstand zu demonstrieren. Die Einsicht, dass sich in ihrem Sport dennoch einiges ändern müsse, kam erst in einer zweiten Welle. Sie brachte Lalovic nach oben, der den Reformkurs für überfällig hält: «Das hätten wir schon vor langer Zeit machen sollen.»
In Petersburg wird der Blitzstarter von vier verdienten Olympioniken seines Sports flankiert. Der US-Amerikaner Jim Scherr (1988), der für Kanada erfolgreiche, in Nigeria geborene David Igali (2000) sowie die Kanadierin Carol Huynh (2012) und Lise Legrand (2004), heute Vize-Präsidentin des französischen Verbandes, werden wie Lalovic vor dem IOC-Gremium zur Sache vortragen. Zusammen sollen sie «die Hingabe und Vielfalt der Ringer und Fans rund um die Welt» demonstrieren, wie er formuliert – und einen neuen Kampfgeist: «Wir müssen stark genug sein, uns zu verändern. Und das sind wir.»
Ringen – ein Mauerblümchendasein in der Schweiz
Aus heiterem Himmel wurden die Ringer im Februar vom IOC erwischt. Alle 26 olympischen Sommer-Sportarten waren einer detaillierten Analyse unterzogen worden, Kriterien wie TV-Quoten, Zuschauerzahlen, Ticketverkäufe, Verbreitung, Mitgliederzahlen oder Attraktivität bei den Jugendlichen wurden untersucht. Ringen, seit 1896 Teil der Sommerspiele und klassische Sportart Olympias der Antike, schnitt dabei schlecht ab.
Eigentlich gilt die Entscheidung vom Februar bereits als Vorentscheidung für den Kongress im September in Buenos Aires. In St. Petersburg befindet die IOC-Exekutive nun unter sieben Kandidaten darüber, welche Sportart nachrückt. Neben Baseball/Softball, Klettern, Karate, Rollschuhsport, Squash, Wakeboarden und Wushu erhalten aber auch die Ringer noch einmal die Chance zur Präsentation.
In der Schweiz waren 2010 gerade einmal knapp 1200 Aktive im Ringerverband Swiss Wrestling registriert. Für Olympia in London 2012 qualifizierte sich auf den letzten Drücker ein Schweizer. Der Greco-Ringer Pascal Strebel aus dem aargauischen Freiamt schied in der ersten Runde aus.
Im Schatten des Eidgenössischen Schwingerverbandes fristet der Ringer-Sport in der Schweiz ein Mauerblümchendasein. Das nichtolympische Schwingen zählt 53’000 Mitglieder, knapp 6000 sind als Aktive gemeldet, die Hälfte davon Kinder und Jugendliche im Alter bis 16 Jahre.
Während die Ringer weltweit lobbyieren, den Mai zum «Monat des Ringens» ausrief und etwa in Deutschland eine breite Protestbewegung gegen das Olympia-Aus formiert werden konnte, der sich selbst Fussball-Ikone Franz Beckenbauer anschloss, geht von der Schweiz kein Widerstand aus. Bei Swiss Olympic, Vertretung von 84 Mitgliedsverbänden, heisst es, man habe sich nicht positioniert in dieser Frage.
«Es wäre einerseits schade für das Ringen», sagt eine Sprecherin, «andererseits eine Chance für eine andere Sportart.» (cok)
– «Die Welt hat Ringerohren» – Ein Beitrag der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» zum Thema und ein Kommentar.
– Ein Bericht bei «sueddeutsche.de» zum olympischen Überlebenskampf der Ringer in St. Petersburg